Interview

„Es gibt viel zu wenige Gedenkstätten“

Dem gebürtigen Südburgenländer Gerhard Baumgartner ist das Schicksal der Burgenländischen Roma ans Forscher-Herz gewachsen. Nur 400 von 7.000 Burgenland-Roma haben den Holocaust überlebt. Wann immer es in der politischen Diskussion um das Aufzeigen von „braunen Flecken und Rülpsern“, Rassismus oder Antisemitismus geht, sind Expertinnen und Experten des von ihm geleiteten Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) am Wort. Gegen ständige Angriffe von rechts bekam das DÖW übrigens Schützenhilfe vom Staatsoberhaupt: Bundespräsident Alexander van der Bellen meinte nämlich, er könne „sich nicht vorstellen, dass sich jemand traut, das DÖW in seiner Existenz anzuzweifeln.“ Walter Reiss hat den Historiker und Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, Dr. Gerhard Baumgartner, zum Gespräch getroffen.

Foto: VHS-Roma-Christian-Ringbauer

Roma Gedenkstätte in Oberwart

 

Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes gilt als eine Art „wissenschaftliches Gewissen“ Österreichs in Sachen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Aber leistet es nicht eigentlich mehr?

Gerhard Baumgartner: Ja, sogar viel mehr. Das DÖW ist ein europäisches Unikum. Es verfügt über einen Großteil aller Dokumente und Gerichtsakte zu Nationalsozialismus und Holocaust. Wir sind die erste Adresse für entsprechende Forschungen. Das DÖW ist in den 60er-Jahren von KZ-Überlebenden und Leuten aus dem Widerstand gegründet worden, wurde dann in den 80er-Jahren zur Stiftung, finanziell vorwiegend getragen vom Bund, der Stadt Wien und vom Land Niederösterreich. Wir zählen zu den zehn meistgenutzten Archiven Österreichs.

 

Apropos „erste Adresse“: Beim noch immer nicht vollständig präsentierten Historikerbericht über die Vergangenheit der FPÖ war das ja nicht der Fall…

Gerhard Baumgartner: Anfangs hat es seitens der FPÖ geheißen, das DÖW werde auch einbezogen. Wir wurden aber nie kontaktiert, bis dann ein Mail von FPÖ-Klubobmann Walter Rosenkranz kam, mit der Beteuerung, es sei nur ein Missverständnis. Man würde an uns herantreten. Wir haben dann dem Vorsitzenden der Kommission, Prof. Wilhelm Brauneder, unsere Bedingungen zur Mitarbeit dargelegt: Ausschließlich Experten sollten den Endbericht – ohne Redaktion oder Zensur durch die Partei – verfassen, und Minderheitenmeinungen von Experten sollten in Fußnoten ausgewiesen werden. Daraufhin folgte keine Reaktion, und es gab kein offizielles Ansuchen um unsere Mitarbeit.

 

Im, dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnenden, Magazin „Info Direkt“, dem übrigens Georg Dornauer (SPÖ-Chef in Tirol) und August Wöginger (ÖVP-Klubchef im Parlament) Interviews gegeben haben, wird das DÖW als „kommunistische Tarnorganisation“ und „Privatstasi“ bezeichnet.

Gerhard Baumgartner: Das ist eine leicht verzerrte Darstellung. Ein immer wieder behauptetes Gerichtsurteil, das feststellt, das DÖW sei eine „kommunistische Tarnorganisation“, gibt es nicht.
In einem vor Jahrzehnten geführten Prozess gegen einen rechtsradikalen Autor hat das DÖW in fast allen Punkten Recht bekommen. Allerdings war es laut Urteil nicht untersagt, im Rahmen der Pressefreiheit und als politische Meinung zu behaupten, das DÖW sei eine „kommunistische Tarnorganisation“ oder „die letzte Stalinorgel Österreichs“.

 

Das DÖW steht beim kritischen Aufzeigen brauner Flecken und rechtsextremer Tendenzen immer wieder unter Beschuss von rechts, stellt aber als Forschungseinrichtung vor allem die Opfer des Nationalsozialismus in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Was enthält diese Datenbank?

Gerhard Baumgartner: Vor 20 Jahren hat man damit begonnen, eine Datenbank über die österreichischen Holocaustopfer zu erstellen. Diese Liste der etwa 65.000 Opfer ist mit Dokumenten belegt. An einigen hundert Personaldaten arbeiten wir noch. In der auf unserer Homepage (www.doew.at) angebotenen Opfersuche finden Sie die österreichischen Shoah-Opfer, Spiegelgrund-Opfer und Todesopfer politischer Verfolgung 1938 bis 1945 sowie von der Gestapo Wien erkennungsdienstlich erfasste Männer und Frauen.

 

Eine Frage an den aus dem Burgenland stammenden Historiker und Experten in Sachen Geschichte und Verfolgung von Angehörigen der Volksgruppe der Roma in der NS-Zeit: Gibt es die als Antiziganismus bezeichneten Formen von Diskriminierung, Vorurteilen und Ablehnung heute noch?

Gerhard Baumgartner: Ja, es gibt ihn noch. So wie der Antisemitismus ist der Antiziganismus Teil eines europäischen kulturellen Codes. Gewisse Einstellungen erbt man sozusagen durch Erziehung und Gesellschaft. Man ist sich solcher Codes oft sehr lange nicht bewusst. Man verinnerlicht sie. Ein derartiger typischer Kulturcode ist das, was man isst oder nicht isst und wovon einem schlecht wird. Ganz Chile isst gerne gebratene Hamster. Uns wird vermutlich schlecht dabei. Vor Innereien – einer Delikatesse meiner Jugend – graust den amerikanischen Verwandten. Das ist anerzogen. Auch Antisemitismus und Antiziganismus sitzen tief.

Ein Beispiel: Angenommen, ein junger Mensch würde einen Juden oder eine Jüdin, einen Rom oder eine Romni heiraten wollen und das seiner Familie sagen: Wie würden die Familienmitglieder wohl reagieren? Aber Codes können sich ändern. Vor 100 Jahren war es gerade auch im Burgenland ein Problem und undenkbar, dass Katholiken Evangelische heiraten und umgekehrt. Denkende Menschen können solche kulturellen Codes überwinden, am besten durch Kennenlernen des jeweils Anderen und durch zwischenmenschlichen Kontakt.

 

In einem 2001 gefassten Beschluss des Burgenländischen Landtags wird nachdrücklich angeregt, in Gemeinden mit ehemaligen Romasiedlungen Zeichen des Gedenkens zu setzen. Ist man da vielerorts nicht noch immer säumig?

Gerhard Baumgartner: Es hat sich etwas gebessert: Ansatzweise. Aber es gibt immer noch viel zu wenige Gedenktafeln. Gemeinsam mit Herbert Brettl arbeite ich derzeit an einer Dokumentation der burgenländischen Romasiedlungen. Wenn man da Siedlungen ab 30 Personen dazu rechnet, kommt man auf 120 bis 130 Orte. Nur in einem Bruchteil davon gibt es irgendeine Art von Gedenken wie Tafeln, Denkmäler oder Namenslisten der Opfer. Wie Beispiele in Holzschlag, Jabing oder Ritzing zeigen, bewegt sich da etwas. Auch in Kemeten spürt man nun Gesprächsbereitschaft.


Gerhard Baumgartner
Der bekannte Historiker und gelernte Journalist (Jahrgang 1957) ist überzeugter Südburgenländer und profunder Kenner der Geschichte des östlichsten Bundeslandes. Seit 2014 ist er wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW).

Davor war er u.a. als Redakteur im ORF Burgenland zuständig für die ungarisch-sprachigen Sendungen und Mitarbeiter der Auslandsredaktion im ORF. Als Dokumentarfilmer gestaltete er 1994 eine Sendung über die von vertriebenen burgenländischen Juden in Israel gegründete Siedlung Kirjat Mattersdorf.

Die Forschungsschwerpunkte seiner wissenschaftlichen Tätigkeit liegen in den Bereichen Widerstand und Verfolgung 1938 bis 1945, der Verfolgungsgeschichte der Roma und Sinti, dem Umgang der Republik Österreich mit der NS-Vergangenheit und der Geschichte der nationalen Minderheiten des Burgenlandes.

VERANSTALTUNG:
Die Holocaust-Opfer der Roma (O holocoust opfertscha le Romendar):
Eine Spurensuche in Kemeten und Umgebung mit Dr. Gerhard Baumgartner, 15. November 2019, 19.30 Uhr, Gemeindezentrum Kemeten.

Der Historiker und wissenschaftliche Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes gibt einen Überblick über das Leben der Roma in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, insbesondere in den 1930er Jahren.

DAS ARCHIV DES „ANDEREN ÖSTERREICH“

Erinnern, Erforschen, Erkennen

Das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW) wurde 1963 von ehemaligen Widerstandskämpfern und Widerstandskämpferinnen und Verfolgten sowie von einigen engagierten Wissenschaftlern gegründet. Es entsprang – ebenso wie die von ihm ausgehende Widerstandsforschung – nicht der vom offiziellen Österreich vertretenen „Opfertheorie“ (Österreich als erstes Opfer von Hitlers Aggressionspolitik), sondern dem Bemühen um Selbstdarstellung der WiderstandskämpferInnen und Verfolgten und deren Selbstbehauptung gegen Ignoranz und Verdrängung. In der Grundsatzerklärung, die für die weitere Tätigkeit maßgebend war, hieß es: „Das Archiv soll vor allem durch dokumentarische Beweise der zeitgeschichtlichen Erziehung der Jugend dienen. Sie soll mit den schrecklichen Folgen des Verlustes der Unabhängigkeit und Freiheit Österreichs sowie mit dem heldenhaften Kampf der Widerstandskämpfer bekannt gemacht werden. Das Archiv soll als bleibende Dokumentation verwahrt werden.“

Opferdatenbank des DÖW: http://www.doew.at/

Forschung auf breiter Basis

Trotz dieser Fokussierung der Gründungserklärung auf den österreichischen Widerstand umfasste die inhaltliche Tätigkeit des DÖW von Beginn an auch die Geschichte der Verfolgung, vor allem der Jüdinnen und Juden, aber auch anderer Gruppen. Das DÖW war auch als Institution stets von weltanschaulicher und religiöser Pluralität geprägt, die Vorstand, Kuratorium und die Zusammensetzung des MitarbeiterInnenstabes ebenso wie deren Tätigkeit bis heute auszeichnet. Seit 1963 gehören dem Vorstand des DÖW Repräsentanten der drei Opferverbände (ÖVP-Kameradschaft der politisch Verfolgten, Bund Sozialdemokratischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus, KZ-Verband) ebenso an wie jene der Israelitischen Kultusgemeinde, der katholischen Kirche und der Wissenschaft. Einen Markstein in der Entwicklung des DÖW bildete 1983 die Gründung der Stiftung DÖW, die gemeinsam von der Republik Österreich, der Stadt Wien und dem Verein DÖW getragen wird und der Arbeit des DÖW ein finanzielles Fundament schuf.

Forschungsschwerpunkte des DÖW: http://www.doew.at/erforschen/projekte/arbeitsschwerpunkte

Bildungsarbeit und Vermittlung

Wissen zum Thema Nationalsozialismus weiterzugeben ist seit seiner Gründung ein wichtiger Tätigkeitsbereich des DÖW. Der Nationalsozialismus beeinflusst und beschäftigt bis heute die österreichische Gesellschaft – Schlagworte wie „Gefahr von rechts“ oder „Schlussstrich“ sind allgegenwärtig. Noch immer gibt es viele Vorurteile und falsche Annahmen zu diesem Thema. Das DÖW bietet daher:

  • Aufklärung in Form von sachlich fundiertem Wissen
  • Diskussion über gegenwärtige Phänomene
  • Anknüpfungspunkte für den Unterricht
  • Unterstützung für Lehrende und Lernende

Historisch-politische Bildungsarbeit bedeutet, Wissen über den Nationalsozialismus und seine Mechanismen zu erwerben, um daraus für Gegenwart und Zukunft zu lernen. Dabei geht es nicht um vorschnelle Gleichsetzungen. Es geht darum, aufzuzeigen, wie eine Gesellschaft sich entwickeln kann, welche Dynamiken entstehen können und wo man heute Gefährdungen für Demokratie und Rechtsstaat wahrnehmen und wie man ihnen entgegentreten kann.

Bildungsangebote des DÖW:  http://www.doew.at/erkennen/vermittlung/bildungsangebote


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