Interview

„Gefährliches Spiel mit Feindbildern und Schuldzuweisungen“

Europäische Solidarität statt nationalem Egoismus fordert der Vizepräsident des EU-Parlaments, Othmar Karas. Als „Urgestein“ der Volkspartei zeigt er im prima!-Gespräch mit Walter Reiss durchaus Kante gegen so manche von ÖVP-Chef und Bundeskanzler Sebastian Kurz vertretene Position.

Foto: Walter Reiss

Vize-Präsident des EU-Parlaments Othmar Karas mit dem Journalisten Walter Reiss.

 

 

In Zeiten der globalen Pandemie wirkt die EU wie eine Patientin mit Vorerkrankungen, befallen von nationalen Egoismen. Eine unter den Mitgliedsstaaten abgestimmte gemeinsame Vorgangsweise ist nicht in Sicht. Stimmt dieser kritische Befund?

Othmar Karas: Das Bild, das die Europäische Union da am Anfang abgegeben hat, hat der Idee der Union sehr geschadet. Inzwischen haben wohl alle erkannt, dass man eine globale Pandemie nicht mit nationalen Grenzschließungen und Schuldzuweisungen beantworten kann. Es versagt nicht die EU als Institution. Die Nationalstaaten sind in der ersten Panik in alte Muster zurückgefallen. Man dachte zuerst, es sei eine gesundheitspolitische Krise und Gesundheitspolitik ist nationale Kompetenz. Inzwischen ist bei den meisten Regierungschefs der Geist einer gemeinsamen europäischen Krisenbewältigung wieder zurückgekehrt, siehe den Wiederaufbauplan „Next Generation EU“ und das mehrjährige Budget der Union.

Ungarn hat aber die Grenzen teilweise dicht gemacht. Von Gemeinsamkeit keine Spur…

Othmar Karas: Ich halte von Grenzschließungen nie etwas. Europa heißt Zusammenarbeit, Solidarität und gegenseitige Unterstützung. Wer diese Identität nicht lebt, kann zwar Wahlen gewinnen, aber kein Problem lösen.

Sie unterstützen z. B. den Vorschlag der Österreichischen Ärztekammer, eine europaweite Datenbank von Covid-19-Kranken einzurichten. Wird das kommen und wenn ja, was soll es bringen?

Othmar Karas: Ich habe mich darum bemüht, dass die deutsche Ratspräsidentschaft das auf die Tagesordnung setzen wird. Im EU-Gesundheitsministerrat wird der Vorschlag von Minister Anschober unterstützt. Eine derartige anonymisierte Datenbank kann helfen, Medikamente besser auf ihre Wirksamkeit zu testen und einen geeigneten Impfstoff zu finden. So kann man vom Wissen der anderen profitieren und schneller Medikamente entwickeln.

Die EU – das hat der Gipfel gezeigt – streitet ums Geld: Das EU-Parlament will den Budgetkompromiss der Regierungschefs neu verhandeln, verlangt Rücknahme von Einsparungen und die Vergabe von Coronahilfsgeldern nur an Länder, die sich an rechtsstaatliche Prinzipien halten. Übrigens haben fast alle ÖVP-EU-Abgeordneten (darunter der burgenländische ÖVP-Chef Christian Sagartz) gegen diese Nachverhandlungen gestimmt. Nur Sie waren – als einziger ÖVP-EU-Parlamentarier – dafür.

Othmar Karas: Die EU nimmt so viele Schulden wie noch nie auf dem Kapitalmarkt auf: 750 Milliarden Euro. Und wir verhandeln gerade ein Rahmenbudget für die Jahre 2021 bis 2027. Wenn man so viel Geld aufnimmt, darf man nicht in vergangene Krisen investieren, sondern muss für die Zukunft planen. Es geht um Klimawandel, Digitalisierung, Unabhängigkeit der europäischen Wirtschaft und sozialen Zusammenhalt. Was noch fehlt, sind klare Zweckbindung der Mittel, begleitende Kontrolle und die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien. Und da ist meine Position glasklar: Ohne klare Regeln in puncto Rechtsstaatlichkeit und Kontrolle der Vergabe gibt es vom EU-Parlament keine Zustimmung. Wer gegen die Werte der EU verstößt, schließt sich selber als Empfänger von Corona-Hilfsgeldern aus. Globale Krisen löst man nicht durch Mauern, Grenzen und nationale Alleingänge. Und auch nicht dadurch, dass Erntehelfer, 24-Stunden-Pflegerinnen oder Hygieneartikel nicht in ein anderes Land gebracht werden können.

„Fratze der Vergangenheit“

Wie soll aber der Rechtsstaatsmechanismus funktionieren, wenn ihn Länder wie Ungarn oder Polen durch Veto blockieren?

Othmar Karas: Es ist ja absurd: Die Verletzung gemeinsamen Rechts und gemeinsamer Werte bekommt Applaus. Es ist ein akutes Problem, dass uns immer mehr die Grundlagen gemeinsamen Handelns abhandenkommen. Das Gemeinsame wird in Frage gestellt und der nationale Populismus und Egoismus bekommen Zuspruch. Wir haben gehofft, mit der Gründung der EU die Fratze der Vergangenheit dauerhaft zu überwinden. Aber dieses Spiel mit Feindbildern und Schuldzuweisungen zeigt, dass wir europäische Demokratie und Werte nicht als selbstverständlich annehmen dürfen. Es muss so sein, dass die Europäische Kommission ohne Zustimmung von Mitgliedsstaaten ein rechtsstaatliches Prüfungsverfahren einleiten kann. Wir brauchen eine Gesinnung in Europa, wo man sich für Verletzung des Rechtsstaates nicht feiern lassen soll, sondern sich dafür entschuldigen muss.

Da haben Sie ja in der eigenen Gesinnungsgemeinschaft, der EVP (Europäische Volkspartei) mit Ungarns FIDESZ und ihrem Chef Viktor Orban dringenden Handlungsbedarf…

Othmar Karas: Leider gibt es derartige Entwicklungen in allen Parteienfamilien: bei den Sozialdemokraten und Liberalen etwa in Rumänien, Bulgarien, Tschechien, Slowakei, Malta oder Polen. Das ist aber keine Entschuldigung. Die EVP trifft es – wie gesagt – in Ungarn und auch in Bulgarien. Orban und die FIDESZ haben sich mit ihrem permanenten Verstoß gegen EU-Recht und Grundwerte selbst aus dem Kreis der EVP ausgeschlossen. Sie sind suspendiert. Solange Orban und Co. demokratische Spielregeln nicht einhalten und die freie Meinungsäußerung mit Füßen treten, gibt es keine Chance auf eine Rückkehr in die EVP. Und was den Rechtsstaat betrifft, muss dessen Einhaltung nicht nur eingemahnt werden, sondern es muss in Zukunft auch Sanktionen geben. Und es gilt, klare Kriterien festzulegen: Wer bewertet, ob und wie Recht verletzt wurde? Letztlich wird Europa als Kontinent der Freiheit, der Demokratie und des Rechts nur bestehen, wenn wir auch nach innen glaubwürdig sind.

Sie sind übrigens auch Präsident des Hilfswerk Österreich. Was sagen Sie zur Vorgangsweise im Burgenland, pflegende Angehörige anzustellen? EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit hat dieses Modell gelobt.

Othmar Karas: Es ist gut, dass in der Öffentlichkeit verstärkt über die Leistungen pflegender Angehöriger und mobiler Dienste geredet wird. Die Pflege älterer Menschen und die Behandlung neuer Krankheiten im Alter müssen genauso bewertet werden wie etwa die Zeiten der Kindererziehung. Ich bin aber skeptisch, ob die Anstellung beim Land das Richtige ist. Man schafft damit zwar Wertschätzung, aber auch Abhängigkeit und machtpolitischen Einfluss. Wobei ja im Burgenland nicht jeder angestellt wird, sondern erst ab Pflegestufe 4. Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Anrechenbarkeit auf die Pension wären da sinnvoller.

Stichwort Familie: Sie haben die Indexierung, also Kürzung der Familienbeihilfe für in Österreich arbeitende EU-AusländerInnen – anders als Ihr Parteichef Bundeskanzler Sebastian Kurz – als „rechtswidrigen Akt“ bezeichnet.

Othmar Karas: Die Unterscheidung in EU-Ausländer und EU-Inländer widerspricht der Idee Europa. Diese Indexierung ist und bleibt willkürlich. Sie ist diskriminierend. Diskriminierung führt immer zu Spannungen, Ungerechtigkeiten und Spaltung der Gesellschaft. Derzeit ist der Europäische Gerichtshof am Wort, weil die EU-Kommission geklagt hat. Es ist ein Relikt aus der Koalition Türkis-Blau und ich hoffe auf rasche Klärung.

Aber seit Türkis-Grün regiert, dürfte sich an der Meinung des Bundeskanzlers nichts geändert haben…

Othmar Karas: Man hat weder von der Koalition noch vom Parlament eine Änderung vernommen. Daher ist es gut, dass die EU-Kommission diese Frage dem EU-Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt hat.

„Ich definiere mich nicht über andere“

Wie ja überhaupt die Linie des Bundeskanzlers oft nicht jene ist, die Sie vertreten. Sie sind etwa dafür, dass Asylwerber in Lehre bleiben dürfen, Sebastian Kurz ist dagegen. Er ist auch dagegen, unbegleitete Flüchtlingskinder aus Lagern in Griechenland nach Österreich zu bringen. Was ist Ihre Position?

Othmar Karas: Ich muss vorher klarstellen: Ich bin nicht der Sprecher der Bundesregierung. Es ist nicht mein Demokratieverständnis, dass jedes Mitglied einer politischen Partei die Meinung des Parteivorsitzenden wiederzugeben hat.

Sie wurden ja in Medien schon als „Anti-Kurz“ oder als „Anti-Strasser“ bezeichnet…

Othmar Karas: Ich definiere mich nicht über andere. Ich bin jemand, der das, was er denkt, auch sagt und tut. Es tut mir sehr leid, dass in Österreich zunehmend jede unterschiedliche Meinung personalisiert und parteipolitisiert wird. Was wir brauchen, ist eine offene und ehrliche Debatte über die Zukunft. In der Europäischen Asyl- und Migrationspolitik habe ich mich immer für Solidarität eingesetzt. Der Zustand auf den Inseln Griechenlands ist menschenunwürdig. Als Solidargemeinschaft sollten wir nicht nur den Griechen und Italienern bei der Lösung des Problems helfen, sondern dafür sorgen, dass Menschen würdig behandelt werden. Die betroffenen unbegleiteten Minderjährigen sollten eine Chance in Europa erhalten.

Burgenlands Landeshauptman Hans-Peter Doskozil sieht aber rechtstaatliche Bedenken gegen eine Aufnahme von Flüchtlingskindern aus Lagern in Griechenland…

Othmar Karas: Das habe ich auch gehört. Es wird ja immer wieder diskutiert, ob das Asylverfahren schon abgeschlossen ist und wie lange es dauert. Aber trotz rechtlicher Grauzonen bleibt die Frage, wie wir mit den betroffenen Menschen umgehen. Ich freue mich, dass es in Österreich hunderte Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und Organisationen gibt, die bereit wären, hier zu helfen. Und Deutschland, Frankreich und Luxemburg zeigen sich da solidarisch.

„Ohne Schaum vorm Mund“

Sie haben vor Ihrer politischen Laufbahn auch im Bankenbereich gearbeitet. Im Skandal um die Commerzialbank Mattersburg sehen Sie ein „mehrfaches System- und Kontrollversagen“. Sollte nicht gerade deshalb ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss auf Bundesebene – auf Wunsch der SPÖ – die politische Verantwortung der Kontrollinstanzen klären und nicht nur ein – von ÖVP, FPÖ und Grünen initiierter – Untersuchungsausschuss im Burgenländischen Landtag?

Othmar Karas: Es muss eine lückenlose rechtliche und politische Aufklärung geben, ohne parteipolitische Rücksichtnahmen. Über Ausschüsse müssen Landtag und Nationalrat entscheiden. Es müssen alle vor den Vorhang, die so etwas ermöglicht haben. Da muss ich darauf hinweisen, dass es auf EU-Ebene bereits strengere Regeln für Bankprüfungen gibt. Etwa müssen demnach die Wirtschaftsprüfer nicht alle 10 Jahre, sondern schon früher wechseln. Das war ja bei der CMB nicht der Fall. Wichtig sind nun die Fragen: Welche geltenden Regelungen wurden nicht eingehalten? und: Wo gilt es, Lücken im Kontrollsystem zu schließen? Es gilt, Konsequenzen zu ziehen, ohne Schaum vorm Mund.

Nach 11 Jahren Ziel-1-Phase und nachfolgenden Förderprogrammen ist das Burgenland gut bedient worden. Wird dieses Füllhorn weiter bestehen oder sind die „goldenen Zeiten“ vorbei?

Othmar Karas: Es sind beachtliche 1,5 Milliarden Euro aus dem EU-Budget ins Burgenland gewandert. 120.000 Projekte wurden mitfinanziert und insgesamt 4 Milliarden Euro wurden investiert. Jetzt ist das Land in der Übergangsphase und dort wird es auch bleiben. Auf einem niedrigeren Niveau werden die Zahlungen weitergehen, weil der weitere Entwicklungsprozess der Region noch nicht abgeschlossen ist.


Othmar Karas
Seine politische Karriere begann der Niederösterreicher Othmar Karas – wie später Sebastian Kurz – in der Jungen ÖVP. Bekannt wurde er auch, als er die Tochter des ehemaligen UNO-Generalsekretärs und späteren Bundespräsidenten Kurt Waldheim, Christa Waldheim, heiratete.

Im EU-Parlament sitzt der ehemalige ÖVP-Generalsekretär und Nationalratsabgeordnete seit mehr als zwei Jahrzehnten. Als einer – von insgesamt 14 – Vizepräsidenten des EU-Parlaments vertritt er konsequent die Vision von einem solidarischen Europa ohne nationale Alleingänge.

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