Nicole MÜHL / 30. Oktober 2024
© Eva Maria Kamper
Benjamin Igler (Pädagog. Leiter Haus Gabriel 2), Leiter Armin Schwartz-Just, Gabriela und Dietrich Hirt (Obfrau u.-Stv.) und Linda Weiss (Pädagog. Leiterin Haus 1).
Wenn Gabriela Hirt spricht, tun es ihre Hände gleich mit. Sie formen Zeichen, zeigen auf Gegenstände, füllen die Stille mit einer zweiten, sichtbaren Sprache – der Sprache ihres Sohnes. Andreas kam mit einer komplexen Behinderung zur Welt. Er ist Autist, gehörlos, sehbehindert, motorisch und kognitiv stark eingeschränkt. Heute ist Andreas 53 Jahre alt, ein „Computer-Freak“, der seinen Alltag weitgehend eigenständig gestaltet. Unter der Woche lebt er im Haus Gabriel. Einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen – einer Einrichtung, die es ohne ihn nicht gäbe.
Weil nichts in Frage kam
Dietrich Hirt war zum Zeitpunkt der Geburt seines Sohnes Personalchef eines regionalen Industrieunternehmens. Immer im Anzug unterwegs. Heute muss er darüber lachen. Mit der Geburt von Andreas veränderte sich sein Leben. Oder besser gesagt: Er veränderte es. Gemeinsam mit anderen Eltern behinderter Kinder gründeten Gabriela und Dietrich Hirt den Verein „Elternring Südburgenland“ im Jahr 1981. „Das war als Erfahrungsaustausch und als gegenseitige Stütze wichtig“, sagen sie heute. Drei Jahre dauerte es, bis daraus das Haus Gabriel 1 in Riedlingsdorf entstand. „Es gab damals nur große Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, die für uns und die anderen Eltern niemals in Frage gekommen wären“, erzählt Gabriela Hirt. In Kärnten lernten sie ein Wohnhaus kennen, das nach dem anthroposophischen Ansatz geführt wurde. Der Mensch und seine individuelle Entwicklung und Förderung steht dabei im Mittelpunkt. „Genau nach diesem Ansatz wollten wir hier selbst eine Einrichtung schaffen. Man kann durchaus sagen, dass die Idee ‚Haus Gabriel‘ aus einer Hilflosigkeit betroffener Eltern entstanden ist“, unterstreicht Dietrich Hirt. Die Frage, was mit dem eigenen Kind passiert, wenn es älter wird, beschäftigte alle Eltern des Vereins. Das Ehepaar Hirt hatte den Mut, die Idee einer eigenen Einrichtung zu verwirklichen. Die Eltern des „Elternring Südburgenland“ bekamen die Garantie, dass ihre Kinder hier in einem familiären Umfeld leben und individuell betreut werden – bis an ihr Lebensende. Haus Gabriel 1 war geboren. Zuerst als Tagesstätte, wenig später als Wohnhaus.
Permanente Weiterentwicklung
Wenn sich Dietrich Hirt heute, zum 40-jährigen Jubiläum der Einrichtung, an die Anfänge zurückerinnert, schüttelt er den Kopf. „Vieles wäre heute aufgrund der strengen Auflagen gar nicht möglich. Wir haben damals einfach getan, was notwendig war, ohne viel zu fragen“, gibt er einen vagen Einblick. Er tauschte Anzug gegen Arbeitsgewand, denn die Bauarbeiten wurden in den Anfangsjahren in Eigenregie durchgeführt. Man packte selbst an, wo Arbeit war. Immer wieder wurde umgebaut, zugebaut und 1985 konnte bereits ein weiteres Haus erworben werden, das Haus Gabriel 2. Auch dieses Haus wurde permanent den Bedürfnissen angepasst. 2020 konnte schließlich ein durch die Europäische Union geförderter Zubau für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf errichtet werden. „Hier ist nichts in Stein gemeißelt“, betonen die pädagogischen Leiter Benjamin Igler und Linda Weiss. Alles habe hier Platz – außer Mitleid für die Bewohnerinnen und Bewohner. „Sie haben ihre Welt. Da sind wir ein großer Teil davon“, wissen die Pädagogen.
Der Spirit
Seit 31 Jahren arbeitet Linda Weiss in der Einrichtung. Der Beziehungsaufbau sei das Wichtigste im Haus Gabriel. Erst dann sei vieles an Entwicklung möglich. Das erlebt auch der neue Leiter der Einrichtung, Armin Schwartz-Just. „Der Geist des Hauses war immer, den Menschen als Individuum in den Mittelpunkt zu stellen und ihm mit Wertschätzung zu begegnen. Das darf nie verloren gehen“, betont er.
Knapp 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in beiden Häusern beschäftigt. Fachkräfteprobleme gebe es hier trotz der intensiven Arbeit nicht. „Wir haben eine gute Zusammenarbeit mit der SOB Pinkafeld. Die Schülerinnen und Schüler lernen wir zum Teil bereits über Praktika kennen und wissen dadurch schon, wer in unser Haus passt“, erklären die Pädagogischen Leiter. Den Menschen zu helfen, ihr Leben zu gestalten – das ist der Anspruch des Hauses an sich selbst. Gabriela und Dietrich Hirt haben das bei ihrem Sohn umgesetzt. „Andreas hat durch Liebe, durch Struktur und Stabilität, durch Geduld und Wertschätzung Dinge gelernt, die in einem anderen Umfeld niemals möglich gewesen wären. Er gestaltet heute sein Leben selbst“, betonen sie. Dinge und Menschen, die in seinem Leben Bedeutung haben, bekommen von ihm ein eigenes Zeichen. Für „Winter“ deutet er mit seinen Händen lange Ärmel an. Der Kochlöffel bedeutet „Mama“, „Papa“ ist der Schreibtisch. Eine Herausforderung für sein Umfeld, diese Symbole zu deuten? „Nein“, sagt Linda Weiss. „Unsere Bewohnerinnen und Bewohner beobachten und speichern mehr, als wir uns vorstellen können.“ Wer hier arbeitet, weiß, wie wichtig es ist, achtsam zu sein. Wie wichtig kleine Handgriffe sind. Düfte, Stimmlagen, Handzeichen. Das sei eben der Geist vom Haus Gabriel.
Andreas Hirt
Andreas Hirt lebt heute ein selbstbestimmtes Leben. „Ohne ihn würde es das Haus Gabriel nicht geben“, wissen seine Eltern und langjährigen Leiter der Einrichtung.
Haus Gabriel 2 wurde im Jahr 2020 um einen Zubau erweitert und dient dazu, die Einrichtung an die sich ändernden Bedürfnisse der Bewohner anzupassen. Helle, große Einzelzimmer, individuell gestaltet, sind im Haus Standard.
Selbstbestimmt leben, Ausflüge machen und Erlebnisse schaffen – das ist für die Menschen im Haus Gabriel wichtig.
Schreibe einen Kommentar