Zeit
Der Sohn einer Freundin setzt sich alle zwei Monate in Wien in den Bus und besucht seine Großeltern im Südburgenland. Seit seiner Studienzeit macht er das. Mittlerweile ist er berufstätig, aber das Ritual ist geblieben – seit 11 Jahren. Seine Mutter hat ihn bereits als Kind und Jugendlichen immer daran erinnert, sich bei den Großeltern zu melden. Nicht nur an den Feiertagen und Geburtstagen, sondern auch zwischendurch. Er hat diese Geste beibehalten und gerade jetzt in diesem schwermütigen Novembermonat, wo wir wieder die Gräber schmücken und der Tod ein wenig näher rückt, erinnere ich mich daran.
Wenn wir jemanden loslassen müssen, wird die Zeit immer zu kurz, immer zu wenig intensiv gewesen sein. Immer bleibt etwas zurück, das man noch gern gesagt oder getan hätte.
Für diese Ausgabe durfte ich eine Landwirtin treffen, die allein mit ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn 300 Hektar Acker bewirtschaftet. Ihr Mann starb vor sechs Jahren an einer schweren Krankheit. Ihren Schmerz über den Verlust und die Trauer kann sie nicht beschreiben und das soll auch nicht Inhalt der Geschichte sein. Aber was ich am Ende dieses Tages mitgenommen habe, war ihre Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit.
Der November ist für mich immer ein Bewusstmachen darüber, was wir ohnehin alle wissen, aber zu wenig umsetzen: Zeit ist das Wertvollste, das wir geben können. Denn durch die Zeit, die wir mit unseren Lieben verbringen, entstehen die Geschichten, die einmal über uns erzählt werden. Und daran werden wir uns am Ende festhalten: dass sie liebevoll und lebendig sein werden.
Nicole Mühl