Reportage

Album Review: Twenty One Pilots – Scaled And Icy

Den eigenen Sound als Band oder Künstler neu zu definieren ist nie ein einfaches Unterfangen. Und das wird besonders schwierig, wenn eine Pandemie so ziemlich die gesamte Musikindustrie auf Eis legt und alle in einen Zustand der Trauer und des Schreckens versetzt. Aber wenn es eine Band gibt, die noch nie vor großen Unternehmungen zurückgeschreckt ist, dann sind es Twenty One Pilots. In einer Welt, in der sich alles „scaled back and isolated“ anfühlt, beweist die Band mit ihrer neuesten hypnotischen Veröffentlichung „Scaled And Icy“, dass sie alles andere als das ist.

Foto © Mason Castillo

Twenty One Pilots haben ihr neues Album veröffentlicht

 

Bekannt und besonders beliebt bei ihrer enorm treuen Fangemeinde, der Clique, haben sich Twenty One Pilots nicht nur einen Namen für ihre herausragend gut gemachten musikalischen Ausflüge gemacht, sondern auch für ihr Händchen dafür, Geschichten zu erschaffen und mehr als nur eine versteckte Bedeutung in ihre Alben und Songs zu packen. Und während die Bindung an eine fiktive Storyline die meisten Bands einschränken würde, hat es dem Duo aus Columbus nach eigener Aussage nur noch mehr Freiheit gegeben und sie von jeglichen Grenzen befreit. Was einst 2015 mit ihrem stellaren Album „Blurryface“ begonnen und dann in ihrem High-Concept-Album „Trench“ aufgegriffen und erweitert wurde, hat nun in ihrer neuesten Veröffentlichung „Scaled And Icy“ ein neues Zuhause gefunden und, wenn man sich das überraschend knallig pink und blau gefärbte Äußere ansieht, auch ein paar neue Schattierungen angelegt. Als Anagramm für „Clancy is dead“, ein Charakter, der erstmals in „Trench“ vorgestellt wurde – ebenso wie die Welt von Dema und ihre dunklen Herrscher, die Bishops, und die unermüdliche Gruppe von Kämpfern, die Banditos (auch als die Fangemeinde bekannt) – steckt „SAI“ voller Überraschungen und neuen Details einer Geschichte, die TØP’s Fans seit Jahren in Atem hält und nur darauf wartet, ausgepackt zu werden.

Twenty One Pilots im neuen Gewand

Auf den ersten Blick sieht und klingt das sechste Album des Duos aus Ohio ganz anders als alles, was die Band bisher veröffentlicht hat. Voller fröhlicher Gitarrenlinien, frischer Beats von Schlagzeug- Kraftpaket Josh Dun, süßer Ukulele-Anschlägen und Sänger Tyler Josephs zuckersüßer, eindringlicher Stimme, die jeden Track wie eine geschmeidige Schlange durchzieht, macht „Scaled And Icy“ einen Sprung von den vorherigen Veröffentlichungen der Gruppe. Vorbei sind die Tage der Dunkelheit, der Angst und der emotionalen Bedrängnis, während eine neue Ära voller sommerlicher Vibes und Spaß an ihre Stelle getreten ist. Zumindest scheint es so. Aber genau wie der Cover-Star des Albums, der Mega-Drache Trash, hat „Scaled And Icy“ viel mehr zu erzählen, als das, was auf den ersten Blick zu sehen und zu hören ist.

Während das Album zunächst leicht und strahlend klingen mag, beweist der Opener, das beschwingte „Good Day“, schon in den ersten drei Minuten des Albums das Gegenteil. Es überrascht nicht, dass der Track das verkörpert, was Twenty One Pilots seit Jahren meisterhaft beherrschen – glückselige Instrumentalstücke, die über dunkle, sehr persönliche Texte gelegt werden. Geschrieben aus einer fiktiven Situation heraus, in der sich Sänger Tyler, der jeden Song des Albums allein geschrieben und die meisten in seinem Heimstudio in Columbus produziert hat, vorstellte, seine Frau Jenna, seine einjährige Tochter Rosie sowie seinen Job zu verlieren – „Lost my job, my wife and child / Homie just sued me / Shoot my life in shoot-em-up style“ – und sogar mit Vogelgezwitscher im Hintergrund, repräsentiert der als Märchen verkleidete Albtraum eine Phase der Trauer, in der sich der Künstler selbst wiederfindet – eine, in der er sich selbst und allen um ihn herum immer wieder einredet, dass es ihm gut geht, dass alles aus einem bestimmten Grund geschieht, wobei er offensichtlich verleugnet, wie er innerlich in Stücke zerfällt.

Was folgt sind die beiden zuvor veröffentlichten Singles „Choker“ und „Shy Away“, die einen Schritt zurück in die Vergangenheit machen und eine Anspielung auf das erste Label-Outing der Band „Vessel“ und ihre frühere Platte „Regional At Best“ sind. Getränkt mit markanten elektronischen Gitarren (eine Premiere für das Duo, da Tyler sich das Gitarrenspielen im Sommer 2020 selbst beibrachte) und durch einen akribischen Mix aus Sounds und Genres rasend, während Schlagzeuger Josh die Beats auf genau die richtige Weise trifft, dienen beide Songs als Hymnen dieser neuen, poppigen Ära. Aber erst danach zeigen Twenty One Pilots erst so richtig, aus welchem Material ihre neueste Platte wirklich besteht, mit dem erfrischenden „The Outside“, das mit vibrierenden, indie-inspirierten Gitarren verblüfft und den ultimativen Hit landet, sobald wir zu Josephs coolem Rap kommen, der den Track zu neuen Höhen führt.

Weiter geht es mit dem ebenso verspielten „Saturday“, das einmal mehr zeigt, wie persönlich und offen Twenty One Pilots gerne werden. Mit einem Telefongespräch mit Ehefrau Jenna im Song ist das ekstatische Stück Gerüchten zufolge dem Hochzeitstag des Paares gewidmet, während auch von den Fans bemerkt wurde, dass mit Erwähnungen von stillstehender Zeit – „Lose my sense a time or two / Weeks feel like days“ und „Life moves slow on the ocean floor / I can’t feel the waves anymore / Did the tide forget to move?“ – und Drogenmissbrauch – „Medicate in the afternoon / And I just want to know / Have you lost your footing, too?“ – der Liebeshit vielleicht nicht ganz so positiv und glänzend sein mag, wie er klingt.

Die größte Überraschung des Albums – und es könnte als das gitarrenlastige schwarze Schaf angesehen werden – kommt mit dem Track Nummer sechs, betitelt „Never Take It“, der selbst bei dem geübtesten Clikkie den einen oder anderen Schock landen könnte. Rockig und düster in all seinen Rissen und Kratzern, mit unglaublich süchtig machenden Riffs, Josephs Trademark-Emo-Schreien und sogar einem voll aufgeladenen Gitarrensolo, berührt der politische Track die Polarisierung der Medien und Regierungen auf der ganzen Welt und in den USA und kämpft aktiv genau dagegen an – „They’re trying hard to weaponize / You and I / We’ll never take it“. Zurück im Universum von Dema, dient die rauschhafte Achterbahnfahrt als Hymne für den Kampf gegen die Bishops und ihre bösartige Herrschaft des Vialismus und der Zelebrierung des Selbstmords und wurde bereits zu Recht als eines der glänzendsten Highlights von „SAI“ gekrönt.

Düstere Lyrics hinter glücklichen Beats weisen den Weg

Zurück auf der Straße der Freude kommt das charmante „Mulberry Street“ als eine lustige, fast theatralische musikalische Darbietung daher, die das Anderssein und sich selbst treu bleiben feiert – und es könnte auch einer der süchtig-machendsten Songs der Platte sein (versucht mal, euch bei diesem Lied nicht zu bewegen). Textlich umspielt der vom Klavier geführte Star wieder einmal die Themen Drogenmissbrauch und falsches Glück – „Ain’t no sunny skies ‚til you finally realize / That everybody relies on synthetic highs / They find someone to prescribe / Keep your bliss, there’s nothing wrong with this“ – und ist Berichten zufolge inspiriert von der Zeit, als die Band zum ersten Mal New York besuchte und Frontmann Joseph sich so fehl am Platz fühlte, wie er es nie zuvor getan hatte – ein Gefühl, das der Sänger mit dieser Sternennummer wiedergeben wollte.

Fest geerdet in der Sphäre von beruhigenden Vocals und eingängigen Drum-Bounces, ist das folgende „Formidable“ bis zum Rand mit zuckersüßer Liebe gefüllt. Zuerst auf der Ukulele geschrieben und dann in eine gefühlvolle, von der Akustikgitarre geführte Ode umgewandelt, wird gemunkelt, dass der Song dem Bandmitglied und zweiten Hälfte Josh Dun gewidmet ist, während einige Fans bemerkten, dass er sogar für die Fanbase selbst gedacht sein könnte, da die Lyrics mit der Zeit übereinstimmen, in der Songwriter Tyler anfing, Musik zu machen und zu veröffentlichen. Am anderen Ende des Spektrums mag das fröhliche „Bounce Man“ zwar im gleichen Raum wie sein Vorgänger leben, aber mit einem Text, den selbst die größten Fans noch nicht ganz entschlüsseln konnten, hat es sich als das größte Fragezeichen auf der Platte herausgestellt.

In diesem Moment macht das Album eine komplette 180-Grad-Wende mit dem eindringlichen „No Chances“, wohl einer der herausragendsten Zenite von „Scaled And Icy“, der mit einem gruseligen Gesang der Bishops beginnt – „We come for you / No chances“ – und schnell mit mitreißenden, elektro- angehauchten Beats von Dun, der den Großteil der Drums auf der 11-Track-Produktion allein entwickelt hat, und Josephs sanft-süßem Gesang folgt. Als kühnste Anspielung auf die Mythologie von Dema und dem darin stattfindenden Kampf, ist der unheimliche Track als Botschaft an die Banditos gedacht, die in der Stadt festsitzen und versuchen zu entkommen, wie Joseph singt – „We got people on the way / We want you home in one piece now (Run away, run away)“ und „We spent some weekends on the grind / Surveillances outside, we see when you arrive“ – während die Bishops es auf der anderen Seite sehr deutlich machen, dass es nie einen Ausweg geben wird. Mit der tiefen Stimme des Charakters Blurryface, der auf dem titelgebenden Album zum ersten Mal als die dunkle Seite des Geistes von Bandmitglied Tyler vorgestellt wurde, sticht der Song gekonnt aus all der bunten Helligkeit von „Scaled And Icy“ heraus und hat sich bereits zu einem absoluten Fan-Favoriten entwickelt.

 

Der letzte Song „Redecorate“ bildet den krönenden Abschluss einer neuen Ära für die talentierte Gruppe. Mit tiefen Beats, die den Weg weisen, und leichten Lo-Fi-Momenten, die sich durch den Song weben, ist er nicht nur klanglich, sondern auch textlich eines der komplexesten Unterfangen auf dem Album. Geschrieben aus der Perspektive von Josephs Freunden nach dem schrecklichen Verlust ihres Kindes und inspiriert von ihrer völligen Ungewissheit, ob sie das Zimmer des Kindes in demselben Zustand belassen oder umdekorieren sollten – „I don’t want to leave like this / ‚Cause the last thing I want to do is / Make my people make decisions, wonderin‘ what to do / Should they keep it on display / Or redecorate?“ –, beschreibt der Track die POVs (point-of-views) sowohl der Eltern als auch des Kindes. Auf der anderen Seite, in Bezug auf das Dema-Universum, haben Fans den Song bereits als ein letztes Lebewohl der Figur Clancy identifiziert, der, laut Briefen, die auf der DMA-Website der Band gefunden wurden, von den Bishops gefangen genommen wurde. Der Closer des Albums beginnt mit einer Zeile aus einem der Briefe, die zuvor von Fans entdeckt worden waren, und gibt auch eine letzte Anspielung auf das Anagramm von „Clancy is dead“, mit den namensgebenden Lyrics des Albums „scaled back and isolated“.

Es kommt nicht oft vor, dass ein Album von Fans als Propaganda wahrgenommen und ihm zunächst mit Misstrauen und Unsicherheit begegnet wird. Unterstrichen durch tröpfchenweise Erwähnungen von Dema und sogar dem Wort „destroy“, das im Flügel des Cover-Stars Trash versteckt ist, schafft es Twenty One Pilots‘ „Scaled And Icy“ nicht nur, sich in die akribisch erarbeitete Welt von TØP und Dema einzufügen, sondern dient auch als neue Ära für das Duo aus Ohio, die sowohl die Clique als auch Gelegenheitshörer zu einer Achterbahnfahrt voller sonniger Tage und bunter Abenteuer einlädt. Der emotionalen Rohheit der Band treu bleibend und ohne den lyrischen Tiefgang zu verlieren, für den die Gruppe bekannt und beliebt geworden ist, überrascht die Platte selbst die erfahrensten Fans und beweist, dass Twenty One Pilots sich abseits von melodischen Zwängen und Genregrenzen am wohlsten fühlen. Produziert während des Lockdowns und mithilfe von endlosen Zoom-Telefonaten zwischen Joseph und Dun, verbeugt sich „SAI“ vor der DIY-induzierten Vergangenheit von Twenty One Pilots, während es wieder einmal die Unterstützung von langjährigen Kollaborateuren Paul Meany und Mike Elizondo sieht und sogar Gesang von Tylers Bruder Jay enthält. Klanglich komplex und vollgepackt mit Überraschungen und Geheimnissen, die hinter jeder Ecke darauf warten, aufgedeckt zu werden, lässt Twenty One Pilots‘ sechstes musikalisches Meisterwerk die Band auf eine Art und Weise wachsen, auf die es niemand je erwartet hätte, und beweist, dass Brillanz manchmal am besten im Loslassen zu finden ist.


Laura Weingrill
Das ganze Leben ist ein Soundtrack – so sieht es zumindest Laura Weingrill. Denn während sich die Welt dreht, hört sie Musik. Und wem die eigene Playlist mit der Zeit zu eintönig wird, dem verpasst sie hier jeden Monat eine neue Portion aufregender Sounds.

Laura Weingrill hat in Wien Publizistik studiert und absolviert derzeit in London ein vertiefendes Studium im Fach Musikjournalismus.

Schreibe einen Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert