Reportage

Mein Album des Jahres 2020 – Moral Panic von Nothing But Thieves

Das ganze Leben ist ein Soundtrack – so sieht es zumindest Laura Weingrill. Denn während sich die Welt dreht, hört sie Musik. Und wem die eigene Playlist mit der Zeit zu eintönig wird, dem verpasst sie hier jeden Monat eine neue Portion aufregender Sounds.

Foto: Jack Bridgland

In einer Welt voller Unsicherheit und Zerstörung bietet fast nichts mehr Inspiration als die aktuellen Ereignisse, und die britischen Rocker der gefeierten Indie-Gruppe Nothing But Thieves sind keine Neulinge darin, Debatten um Politik, mentale Gesundheit und soziale Kämpfe gekonnt mit ihren eigenen Erfahrungen zu vermischen und alles in großartige Songs verwandeln. Kein Wunder also, dass so auch die neueste Arbeit der Gruppe, ihr drittes Album „Moral Panic“, entstanden ist. Ein Album, das nicht davor zurückschreckt, die heutige Welt und ihre Probleme ins Rampenlicht zu rücken.

Im Kern fungiert „Moral Panic“ als Spiegel für uns alle, für eine Gesellschaft, die zu idealistisch, zu „Hollywood“ und zu ängstlich geworden ist, sich ihren dunkleren Seiten zu stellen. Der Anfangstrack der Platte mit dem Titel „Unperson“ verkörpert dies buchstäblich. Leadsänger Conor Mason erzählt von dem Verlust seiner selbst in einer modernen Welt und der Frage seiner eignen Identität, während er davon überzeugt ist, ein „Unmensch“ zu sein, jemand, der für den „öffentlichen Konsum“ nicht geeignet ist. Das Lied schreit vor Frustration über die Zerstörung der Jugend durch die regressiven Ideologie unserer Welt, in der alles „nicht das ist, was man denkt, es ist schlimmer“.

Es ist der Beginn einer Geschichte, die im ultimativen Hit der Band in diesem Jahr, „Is Everybody Going Crazy“, fortgesetzt wird – ein Song, der zu keinem besseren Zeitpunkt veröffentlicht werden hätte können, gerade als die Welt inmitten einer globalen Pandemie begann zusammenzubrechen und Toilettenpapier unerwartet zu einer neuen Währung wurde. Es ist ein Heavy-Hitter, der seine eigene dystopische Seite hat, aber auch ein Gefühl des Trostes, dass wir in diesen Zeiten des emotionalen Kampfes trotzdem nicht alleine sind.

Dies ist der letzte Tag meines Lebens“, folgen die von Mason gesungenen Worte zu Beginn des nächsten Stücks, des namensgebenden Titeltracks „Moral Panic“ – ein Lied, das beweist, dass Nothing But Thieves mehr Trümpfe in ihren Ärmel versteckt haben, als sie es scheinen lassen. Vollgepackt mit einem fesselnden Beat, der fast einem Dance-Hit ähnelt, fühlt sich der Track gleichzeitig leicht und schwer an. Die Texte sprechen von einem Zustand der Panik und Angst, unterstrichen mit einem süchtig machenden Rhythmus, der es unmöglich macht, sich nicht zu ihm zu bewegen.

Im nächsten Moment zeigt sich das Album von einer neuen Seite, die voller Hoffnung und der Entdeckung der Liebe strahlt. Die glänzenden Tracks „Real Love Song“, „Free If We Want It“ und die bezaubernde Ballade „Impossible“, die kürzlich als Orchesterversion live in den berühmten Abbey Road Studios aufgenommen wurde, lassen die Band hinter die romantische, idealistische Natur der Liebe blicken und die unerwiderte und fast schmerzhafte Realität enthüllen, die viele von uns schon allzu oft erlebt haben. Hymnisch und von unglaublicher Wildheit funkeln die Songs mit triumphierend-euphorischen Melodien, die Mason mit bewegenden, fast operetten-haften Vocals performt, sowie mit körnigen, beeindruckenden Gitarrenriffs, die den Tracks zu einer perfekten Balance verhelfen.

Die größte Überraschung des Albums – und es könnte als das schwarze Schaf angesehen werden – ist seine Nummer 10 mit dem Titel „Can You Afford To Be An Individual“. Normalerweise sind NBT gerne die eine Band, die ihre Geschichten und Erfahrungen in Metaphern verpackt, aber mit diesem fast aggressiven Track lässt die Gruppe sofort alle Gedanken und Hinweise auf Doppelbedeutungen zurück, während Mason schreit „Bist du ein wandelnder Widerspruch mit einem MAGA-Cap?“ und „Wer bist du, um uns zu sagen, wo wir hingehören und wo nicht? / Und wer bist du, um uns zu sagen, wen wir lieben können und wen nicht? Nur weil deine Mutter dir gesagt hat, du würdest gewinnen, als du jünger warst.“ Es ist offensichtlich, dass das Lied an Donald Trump, den 45. und bald vergangenen Präsidenten der Vereinigten Staaten, gerichtet ist – eine politische Figur, gegen die der Sänger unzählige Male Ressentiments geäußert hat. Es ist ohne Zweifel der gewagteste Track der gesamten LP, aber auch der überraschendste, da er eine neue Seite des in Southend-On-Sea ansässigen Quintetts zeigt, die eine Sehnsucht nach mehr weckt.

Das Abschlussstück „Before We Drift Away“ fühlt sich dann an wie der erste Sonnenstrahl am Morgen, mit einer starken klassischen Basis und Masons atemberaubender Stimme, die eine Botschaft sendet, die so hoffnungsvoll und persönlich ist, dass es kaum einen besseren Weg geben könnte, das Album zu beenden. Plötzlich bekommt das gesamte Werk, das bis zu diesem Zeitpunkt mit einem eigenen Ablaufdatum versehen war, ein Gefühl der Unendlichkeit, als wäre es noch lange da, nachdem all das Chaos und die Zerstörung vergessen und wir alle schon lange weg sind.

Es ist diese Mischung aus riesigen monströsen Riffs, energischen, manchmal wütenden, manchmal liebevollen Texten und ruhigeren, nachdenklicheren Momenten, die sich alle so nahtlos zu einem Ganzen zusammenfügen, dass „Moral Panic“ nahezu vor Perfektion glüht. Es stellt einen Maßstab auf, der für mich von keiner anderen Veröffentlichung dieses Jahres übertroffen wurde – mit erstaunlichen Lyrics, atemberaubendem Gesang und unglaublicher Musikalität, die Nothing But Thieves als eine der aufregendsten und faszinierendsten Indie-Rock-Bands in den Vordergrund rückt. Geboren aus einer Zeit, die nicht unsicherer sein könnte, hat das Quintett ein ausdrucksstarkes kleines Kunstwerk geschaffen, das die Zuhörer dazu drängt, sich mit ihren eigenen Gedanken auseinanderzusetzen, um einer sich stetig verdunkelnden Welt einen Schuss Positivität zu verleihen.

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Laura Weingrill
Musikjournalistin Laura Weingrill stammt aus Bad Tatzmannsdorf und lebt derzeit in London.

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