Elena U. – Zwischen zwei Welten

Stellen Sie sich vor, Sie müssen Ihre Heimat verlassen, fliehen vor Krieg und Zerstörung, landen in einem fremden Land, einem fremden Leben. Und da ist jemand, der hilft. Der übersetzt, zuhört, den Alltag erklärt. Doch diese Hilfe kommt ausgerechnet vom „Feind“. Elena Uvarova ist Russin und hilft Ukrainer:innen. Sie spürt diesen Widerspruch jeden Tag, trotzdem steht sie den Menschen bei, die sie brauchen – und lebt zwischen zwei Welten.

Nicole MATSCH / 2. Juli 2025

Während zwischen ihren Ländern Krieg herrscht, begegnen sich diese beiden Frauen in Österreich mit Mitgefühl: Die Russin Elena Uvarova hilft der Ukrainerin Lilia, die mit ihren Kindern aus ihrer Heimat flüchten musste.

Elena Uvarova wohnt seit über 17 Jahren in Österreich. Seit Beginn des Krieges unterstützt sie ukrainische Geflüchtete im Südburgenland – unterrichtet deren Kinder, begleitet sie zu Arztterminen, ist einfach da. Sie ist ein Anker im Chaos – und gleichzeitig eine Erinnerung an den Schrecken. „Die meisten haben kein Problem damit, dass ich Russin bin. Es kommt aber immer darauf an, wie stark sie traumatisiert sind“, beschreibt Elena Uvarova ihre Begegnungen. In ihrer Heimat konnte sie als Journalistin nicht mehr frei arbeiten. Heute ringt sie mit ihrer Herkunft und versucht etwas wiedergutzumachen, wofür sie nichts kann. „Ich denke, dass ich nichts Besonderes tue“, sagt sie. Dabei ist die energische 66-Jährige für viele in ihrer Umgebung genau das: besonders. 

Schon vor dem Krieg war die Russin mit Ukrainer:innen befreundet. Von ihnen hört sie Schreckliches. Als sie von einer Bekannten aus Kiew erzählt, hält sie inne. „Ich spreche nicht so gut Deutsch“, entschuldigt sich Uvarova, während sie nach Worten für das Unaussprechliche sucht. Ihre Freundin rief aus der Hauptstadt an, die fast täglich bombardiert wird. „Wem haben wir denn was getan? Wir wollten doch einfach nur unser Leben leben“, habe sie am Telefon gesagt, weinend vor Angst um ihre Tochter, die sich noch nicht gemeldet hatte. In Uvarovas Augen liegt, was sie nicht ausspricht: innere Zerrissenheit, stille Wut und Scham.

Journalismus in Russland – von Hoffnung zu Repressionen

Im Russland der 90er-Jahre schrieb Elena Uvarova für ein gesellschaftspolitisches Frauenmagazin in Moskau, das in der gesamten ehemaligen Sowjetunion verbreitet war. „Es war eine Zeit der Freiheit, eine Zeit der Hoffnung – und der ersten Enttäuschungen“, sagt sie über die Übergangsperiode nach dem Zerfall der Sowjetunion. Die Freiräume schrumpften. Themen wie Korruption und gesellschaftlicher Wandel, über die sie geschrieben hatte, verschwanden schrittweise aus dem öffentlichen Diskurs und schließlich aus dem Magazin. Als sie Anfang der 2000er in einer Regionalzeitung einen kritischen Artikel über zweckentfremdete Spendengelder veröffentlichte, folgte ein langwieriger Gerichtsprozess. Es war der Moment, in dem ihr klar wurde: Die Pressefreiheit, wie sie sie einst kannte, war verloren. „Heute sind keine echten Journalisten mehr in Russland“, sagt sie verbittert. Neue Gesetze gegen sogenannte „Fake News“ und „Desinformation“ setzen kritische Medien massiv unter Druck – viele gaben auf. Denn: Wer von der offiziellen Linie abweicht, riskiert bis zu 15 Jahre Haft – etwa für Berichte über militärische Verluste oder zivile Opfer.

„Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“

Uvarova zog Konsequenzen – persönlich wie beruflich. Durch ihren Mann Werner, den sie im Internet kennengelernt hatte, kam sie nach Österreich. „Es war keine romantische Geschichte“, sagt sie ehrlich. Dennoch war da eine tiefe Verbundenheit. Ab 2007 lebten sie in Hartberg, später in Stegersbach. Zehn Jahre lang arbeitete die Russin als Dolmetscherin im psychosozialen Zentrum Hartberg, begleitete russischsprachige Geflüchtete wie Tschetschenen oder Armenier zu Polizei, Spitälern oder Therapien. „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.“ Mit diesem Zitat von Carl August Sandburg begann sie damals ihre Führungen im Friedensmuseum der Burg Schlaining. Vor allem russischsprachige Kinder aus Israel und Russland begleitete sie durch Ausstellungen zum Thema Gewalt. „Heute frage ich mich oft, welche Schicksale sie wohl ereilt haben.“ Einen Moment ist sie mit ihren Gedanken weit weg. Betroffen von der damaligen Unbeschwertheit und Ahnungslosigkeit darüber, wie sich die Dinge entwickeln würden.

Trauer, Krieg und neue Aufgaben

Mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine änderte sich vieles. Elena Uvarovas Mann war gerade gestorben, die Trauer frisch, der Verlust noch heute zu schmerzhaft, um darüber zu sprechen. Und dann der Krieg. „Ich war noch völlig erschüttert, als plötzlich dieser Wahnsinn begann“, sagt sie mit verzweifelter Wut in der Stimme. „Ich habe mich so geschämt – als Russin.“ Doch ihre Nachbarn in Stegersbach trösteten sie. „Lena, das hast nicht du gemacht.“ Von da an wollte sie nicht mehr nur trauern, sondern helfen. 

In einer Notunterkunft für Geflüchtete engagierte sie sich bald freiwillig. Sie brachte Obst, Hygieneartikel, erklärte den Kindern österreichische Bräuche, half bei Deutschübungen. „Nur Basiskenntnisse“, betont sie und verweist auf ihre eigenen Defizite in der Sprache. Zehn Tage am Stück unterrichtete sie in Eigenregie, später kam sie jeden Sonntag. „Ich bin keine Lehrerin, aber ich habe mir Material aus dem Internet gesucht – und sie haben viel gelernt“, erzählt sie und zeigt selbstgebastelte Lernspiele. „Ein kleiner Schüler aus der Ukraine fragte mich einmal: ‚Elena, warum sprechen Sie so gut Russisch?‘. Weil ich Russin bin, sagte ich, und sah kurz den Schrecken in seinen Augen aufblitzen. Doch dann dachte er nach. Ich brachte immer Süßigkeiten, darum war ich gut“, sagt sie schmunzelnd.

Eine besondere Verbindung

Im Heim für ukrainische Waisenkinder in Burgauberg-Neudauberg gab Uvarova den Kindern der Betreuerinnen ebenfalls Deutschunterricht. Zu den Waisen selbst hatte sie keinen direkten Kontakt – doch dort begegnete sie Lilia. Die 42-jährige Ukrainerin kam im März 2022 als eine der 26 Betreuerinnen – und mit drei eigenen Kindern – nach Österreich. Als die Gruppe vor Kriegshandlungen floh, ahnte Lilia noch nicht, dass sie erneut schwanger war. Im November brachte sie ihr viertes Kind zur Welt: Milana. „Erst zwei Jahre später konnte der Vater nachkommen und sah seine Tochter zum ersten Mal“, sagt Uvarova leise. Da Lilias Partner gesundheitlich angeschlagen ist, begleitet sie Lilia bei Behördenwegen und Arztterminen. Am wichtigsten ist jedoch, dass Lilia mit ihr über all ihre Sorgen, Zweifel und Ängste sprechen kann. „Mit mir sprechen sie Russisch, miteinander Ukrainisch, aber nach außen fehlt die Verbindung. Dass ich Russin bin, spielt für sie keine Rolle.“ Lilia und ihre Familie wollen in Österreich bleiben. Sobald die kleine Milana einen Kindergartenplatz bekommt, möchte Lilia wieder arbeiten.

Ende Mai 2025 wurden die Waisenkinder vom ukrainischen Staat zurück in ihre Heimat geholt. „Mein Herz war schwer“, sagt Uvarova, „aber ich hoffe, dass sie in ihrer Stadt im Hinterland in Sicherheit sind.“


Distanz zum Krieg, Nähe zu den Menschen

Offene Anfeindungen aufgrund ihrer Nationalität erlebt Elena Uvarova selten – aber wenn, schmerzen sie umso mehr. Gerade weil sie sich klar von Putin und dem Krieg distanziert: „So viele Familien sind zerstört, so viele Opfer.“ In ihrer Stimme liegt Bitterkeit. Besonders hart trifft sie, wie tief die staatliche Propaganda auch in gebildeten Kreisen wirkt. Sie hat deshalb den Kontakt zu vielen Bekannten abgebrochen. „Das war einfacher als sinnlose Gegenargumente vorzubringen“, seufzt Uvarova, die vor acht Jahren zuletzt ihre Heimat besuchte. Angst um Verwandte in Russland hat sie durchaus. „Ich fühle mich in Österreich sicher, aber nicht unverwundbar. Jetzt schaut man auch, was die Russen im Ausland so machen“, beschreibt sie ihre Lage. Trotz allem tut sie, was sich für sie richtig anfühlt.

Für manche ist Elena Uvarova ein Feindbild – allein deshalb, weil sie Russin ist. Davon lässt sie sich aber nicht beirren. Sie lebt zwischen zwei Welten und findet ihren Platz, indem sie hilft.

Ältere Frau hilft jungem Mann beim Lernen mit einem Buch am Tisch. Hilfreiche Unterstützung beim Studium.

Menschlichkeit spricht jede Sprache. Die Russin Elena Uvarova gibt ukrainischen Kindern Deutsch-Unterricht und Hoffnung im Alltag.

Ältere Frau erklärt zwei Jugendlichen konzentriert ein Buch an einem Tisch.
 

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