Interview

“So sind wir schon!“

Alexander van der Bellens Zitat nach dem Auffliegen der Ibiza-Affäre „So sind wir nicht!“ stößt bei der ehemaligen Bundespräsidentschaftskandidatin Gertraud Knoll auf Widerspruch. 1994 wurde ihre Wahl zur ersten Evangelischen Superintendentin Österreichs zum Medienereignis, und sie war ein Jahr im Amt, als vor 25 Jahren – am 5. Feber 1995 – vier Männer in der Romasiedlung in Oberwart durch die von Franz Fuchs gelegte Sprengfalle ermordet wurden. Als engagierte Kämpferin für Menschlichkeit hielt sie weder als kirchliche Amtsträgerin noch später als SPÖ-Politikerin mit Kritik an Gesellschaft, Kirche und Politik nie hinter dem Berg. Ämter und Funktionen hat sie längst abgelegt, öffentliche Auftritte sind rar. Für „prima!“ stand sie nun Walter Reiss Rede und Antwort über Erinnerungen an das Attentat, und sie warnt nach wie vor vor unmenschlichem Schüren von Ängsten und Ausgrenzen von „Anderen“.

Foto: Walter Reiss

Im Interview mit Gertraud Knoll-Lacina

 

Zählt der 5. Feber 1995 zu jenen Tagen, an die Sie sich immer erinnern werden?

Gertraud Knoll: Ja. Als ich in der Früh in den Nachrichten vom Mord gehört habe, war es, als wäre in dieser Sekunde die Zeit stehengeblieben. Es war eine Wahrnehmung des Unfassbaren. Und das „Nicht schon wieder!“ ist mir durch den Kopf gegangen: Dass nämlich politisch motivierte Attentate auch in der Zweiten Republik passieren, hat mich sprachlos, traurig und verzweifelt gemacht.

Damals waren es ja eigentlich spannende Zeiten: Der Eiserne Vorhang war weg, der Osten im totalen Umbruch, und man hoffte auf große Freiheit durch westlichen Kapitalismus. Und im Burgenland – damals in der Ära des SPÖ-Landeshauptmannes Karl Stix – war man richtig stolz auf gelebte Vielfalt und gutes Miteinander der Volksgruppen und Konfessionen. Und genau das Gegenteil davon war gleichzeitig der Aufstieg Jörg Haiders: Spalten der Gesellschaft, Bedienen alter Klischees, Antisemitismus mit Augenzwinkern.

Aus Worten wurden wieder Waffen geschmiedet. Und dann das Attentat in Oberwart: Den Worten folgten also Taten! Ich wollte mir einfach nicht vorstellen, dass rassistisches Feindbilddenken wieder zum politischen Biotop gehört.

Sie waren damals Superintendentin. Was haben Sie am Sonntag nach dieser Mordnacht gemacht?

Gertraud Knoll: Ich habe sofort und unermüdlich telefoniert, auch mit dem Landeshauptmann. Ich wollte so rasch wie möglich Fakten erfahren. Stammtisch-Niveau gab es ohnehin, da stand dann sogar in der Kronenzeitung, es sei wohl eine Fehde unter Zigeunern gewesen. Es gab aber schon vor dem Oberwarter Attentat die Serie an Briefbomben, und da waren sie auch wieder: Diese rechten Reflexe mit Täter-Opfer-Umkehr. Ich fand und finde das erschreckend.

„Die Gastfreundschaft der Roma hat mich sprachlos gemacht“

Haben Sie damals die Hinterbliebenen in der Romasiedlung besucht?

Gertraud Knoll: Ja, einige Tage nach dem Mord. Und zwar war ich gemeinsam mit Bischof Paul Iby dort. Es war eine der Situationen, wo man auch als Seelsorgerin um Worte ringt. Außerdem hat mich die Gastfreundschaft der betroffenen Familien sprachlos gemacht. Ich konnte einfach durch meine Anwesenheit nur zeigen, dass ich mitfühle. Noch dazu wurden die Leute in der Siedlung durch den voyeuristischen Ansturm vieler Medien zum zweiten Mal zu Opfern.

Die Volksgruppe der Roma ist durchwegs katholisch geprägt. Trotzdem wurden Sie als Evangelische Superintendentin ersucht, beim – einem Staatsakt sehr ähnlichen und im Fernsehen live übertragenen –Trauergottesdienst für die ermordeten vier Männer in Oberwart die Predigt zu halten.

Gertraud Knoll: Ja, stimmt. Eigentlich hätte ich als geistlich agierende Superintendentin bei diesem Gottesdienst gar nichts verloren gehabt, außer natürlich als Zuhörerin. Aber im Einvernehmen mit Bischof Paul Iby und Landeshauptmann Karl Stix sollte gerade dadurch ein Zeichen der Gemeinsamkeit gesetzt werden.

Was mich aber nachdenklich gemacht hat, war neben der medialen Aufregung diese ritualisierte Betroffenheit: „Oh, wie furchtbar!“ Damit hatte es sich aber auch schon.
In der Vorbereitung zur Predigt kam mir ein Satz des von den Nazis ermordeten Evangelischen Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer in den Sinn: „Wer nicht für die Juden schreit, darf auch nicht gregorianisch singen!“ Christlich zu sein, bedeutet nicht nur, sich in Mitgefühl zu üben, sondern ohne Wenn und Aber und ohne Kompromisse auf Seiten der Opfer zu stehen.

„Du Judensau wirst auch bald brennen!“

Hätte es 1995 schon soziale Medien gegeben, wäre vermutlich ein Shitstorm mit aggressiven Hasspostings über Sie hereingebrochen. Es gab damals Morddrohungen gegen Sie und Ihre Familie.

Gertraud Knoll: Schon in der Nacht nach dem Attentat hörte ich auf meinem Anrufbeantworter „Und du Judensau wirst auch bald brennen!“ Noch schlimmer wurde es dann nach der Predigt beim Trauergottesdienst. Ab dann war ich nicht nur als erste Frau im bischöflichen Amt medial interessant, sondern ich war politisch exponiert wie nie zuvor. Und ich bleibe dabei: Wer sich Christ nennt, darf nicht schweigen, wenn Menschen anderer Hautfarbe oder fremder Herkunft als Wesen zweiter Klasse behandelt werden. Menschenwürde und Menschenrechte sind unteilbar.

Hat man im politischen Alltag seit diesem furchtbaren politisch motivierten Mord aus der Geschichte gelernt? Sie waren ja selbst auch Nationalratsabgeordnete und Bundesrätin der SPÖ.

Gertraud Knoll: Politik wird heute von der Frage beherrscht: Wie kann man Wählerinnen und Wähler am besten manipulieren? Verpackung und Marketing sind wichtiger als Inhalte. Doch manipulierte Menschen, die ja nicht dumm sind, kommen drauf, dass sie für blöd verkauft werden.

Es entstehen Orientierungslosigkeit, Wut und Angst. Und schon sind wir wieder bei der Frage: Wer ist schuld daran? Die Antwort kommt wie ein Reflex: Es sind die Ausländer, es sind die Fremden. Diese so verdammt einfach klingende Zuschreibung ist das Tiefste und Verhängnisvollste, das wir aus der Geschichte kennen. Wir sollten längst gelernt haben, dass das Treten nach unten, nach den noch Schwächeren, den nicht glücklich macht, der tritt.

Und auch im Umgang mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen gilt es noch weiterhin, zu lernen. In einer Rede auf dem Fest der Freude im Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs habe ich 1995 gesagt: „Gottseidank ist dieser Krieg verloren gegangen!“ Ich werde nie vergessen, als daraufhin der Leiter des Jewish Welcome Service, Leon Zelman tief bewegt war. Er hätte sich nie träumen lassen, so einen Satz in Österreich von einer Österreicherin zu hören.

Glückskinder ohne Empathie

Sie haben sich um das Amt als Bundespräsidentin beworben. Was geht Ihnen da durch den Kopf, wenn Sie die häufigen Regierungswechsel der letzten Jahre, den Ibiza-Skandal und das Handling durch Alexander van der Bellen betrachten? Wie hätten Sie die Krisen gemanagt?

Gertraud Knoll: Ich denke, da hat jeder wohl seine eigene Handschrift. Der Sager von Alexander van der Bellen: „So sind wir nicht!“ wäre mir nie entkommen. Mir wäre eher eingefallen: „So sind wir schon!“ Sperren wir etwa in Hinkunft Menschen nur auf Verdacht ein, dass sie vielleicht gefährlich sein könnten?

Merken wir denn nicht, wie wir Demokratie und Menschenrechte gefährden, wenn wir an solchen Schrauben drehen? Die Evangelische Kirche in Deutschland hat gemeinsam mit 150 anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen ein Seenotrettungsschiff gekauft. Das ist Mut, das ist klares Bekenntnis. Wir müssen Flagge zeigen. Uns ist oft nicht bewusst, welchen unglaublichen Jackpot wir in Österreich Lebenden gewonnen haben.

Nach einer jüngsten Untersuchung werden weltweit in einem Menschenleben 60 Prozent davon bestimmt, in welchem Teil der Welt man geboren ist, 20 Prozent entscheidet das Elternhaus, den Rest kann man selbst gestalten. Wie kann ich also jenen Menschen, die einen solchen Jackpot nicht gewonnen haben, verübeln, dass sie verzweifelt um Verbesserung ihrer Lage ringen?

Die Glückskinder haben jede Empathie verloren. Aber ich habe mittlerweile auch so viele junge, politisch wache Menschen kennengelernt, die gegen ausbeuterische Dummheit auftreten. Ich blicke trotz allem zuversichtlich in die Zukunft.

Wie ist – nach Ausübung kirchlicher Ämter und politischer Funktionen – Ihr Verhältnis zu Kirche bzw. zur SPÖ heute?

Gertraud Knoll: Mit einem gewissen Augenzwinkern würde ich sagen: Was mir früher oft zu Unrecht vorgeworfen wurde, nämlich die „Rote Bischöfin“ zu sein, das lebe ich jetzt ganz ohne Amt und Würden auf ganz andere Art. Und im Ernst: Es gab für mich äußerst schmerzhafte Prozesse von persönlicher Enttäuschung, Entwurzelung, tiefster Desillusionierung.

Doch geblieben ist, was ich immer schon hoffte und dessen ich eigentlich von Kindesbeinen an gewiss war. Ob sich ein Mensch auch dem Fremden gegenüber in Not als Mensch erweist, nämlich als einfühlsamer liebevoller Mensch, das ist weder ablesbar auf einer schönen persönlichen Visitenkarte noch auf Basis institutioneller Zugehörigkeit.

Es ist wunderbar, wenn Grenzgänger oder Menschen, die gar Grenzen überwinden, ins Erzählen kommen und voneinander lernen! Da will ich hingehören! Das erweckt mein neugieriges aufmerksames Staunen! Das sind meine Wurzeln mit stetigen Verzweigungen aus unbändiger Lebendigkeit und Hoffnung. Dorthin werde ich immer in Kontakt sein und vor allem unterwegs bleiben.


Gertraud Knoll-Lacina
Bekannt wurde die gebürtige Oberösterreicherin schon 1985 als erste Pfarrerin der Evangelischen Diözese AB im Burgenland. Große mediale Aufmerksamkeit galt ihr dann 1994, als sie als erste Superintendentin Österreichs ihr Amt im Burgenland antrat, das sie bis 2002 ausübte.

Für ihr engagiertes Auftreten gegen Diskriminierung und für Menschenrechte wurde sie mit der Friedrich-Torberg-Medaille der Israelitischen Kultusgemeinde und von den Lutherstädten mit dem Preis „Das unerschrockene Wort“ ausgezeichnet.

Von 1995 bis 1997 beherbergte sie sechs afghanische Kinder, zunächst im Kirchenasyl und danach als Pflegeeltern gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann, weil die Flüchtlingskinder aus der Bundesbetreuung herausgefallen waren.

1989 trat sie als überparteiliche Kandidatin zur Bundespräsidentschaftswahl an. Amtsinhaber Thomas Klestil wurde zum zweiten Mal gewählt, Gertraud Knoll erreichte den zweiten Platz vor den Mitbewerbern Heide Schmidt und Richard Lugner.

Wie schon bei ihrer Predigt beim Trauergottesdienst für die vier ermordeten Roma in Oberwart 1995 sorgte auch eine 2000 bei einer Großkundgebung gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ unter Wolfgang Schüssel gehaltene Rede gegen Rassismus und Sozialabbau für Anfeindungen vor allem aus dem rechten Lager. 2003 bis 2007 leitete sie die Zukunfts- und Kulturwerkstätte der SPÖ, dann war sie Mitglied des Bundesrates und Nationalratsabgeordnete.

2008 trat sie aus der Evangelischen Kirche aus, aus Protest gegen einen ‚Hirtenbrief‘ des Kärntner Superintendenten Manfred Sauer, in dem betont wurde, Jörg Haider habe „wie kein anderer das politische Geschehen der Zweiten Republik mitgeprägt und gestaltet“...und sei „ein äußerst zuvorkommender, herzlicher und einfühlsamer Mensch“ gewesen.

Nach der Scheidung vom Theologen Otmar Knoll, dem Vater ihrer drei Kinder, lebte sie mit ihnen in Wien – seit 2006 gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann, dem ehemaligen Finanzminister Ferdinand Lacina.

Walter Reiss
Er war 40 Jahre lang beim ORF Burgenland als Redakteur, Chef vom Dienst und Regisseur in Radio und Fernsehen tätig. Walter Reiss war Gestalter von insgesamt 50 TV-Dokumentationen der Serien „Österreichbild“ und „Erlebnis Österreich“ für ORF 2 und 3sat. 2000 wurde er mit dem Bgld. Journalistenpreis ausgezeichnet.

Nach wie vor ist er tätig als Moderator von Podiumsdiskussionen, Tagungen und Veranstaltungen zu politischen, gesellschaftspolitischen und sozialen Themen.

Schreibe einen Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

1 Antworten