Nicole MATSCH / 24. September 2025
© Nicole Matsch
Nora Wurzinger riecht von Geburt an nichts, daher ist auch ihr Geschmackssinn stark eingeschränkt. Ihrer Leibspeise, dem Honig, kann sie dennoch nur schwer widerstehen.
Wenn die Nase nichts meldet
„Ich rieche ja nichts“, erklärt die gebürtige Grazerin die widerliche Episode aus ihrer Jugend und zuckt mit den Achseln. Anosmie heißt die völlige Abwesenheit von Geruchssinn und die dadurch starke Beeinträchtigung des Geschmackssinns. Bei manchen wird sie durch Unfall oder Krankheit verursacht. Wurzinger, die seit elf Jahren in Oberdorf zu Hause ist, kennt ihr Leben lang keine Düfte – weder Rosen noch Rauch, weder Kaffee noch Käse, weder Heu noch Hundehaufen.
Apropos Hundehaufen: Die 66-Jährige lacht, als die Boxerhündin Cado zu ihren Füßen laut schnarcht, und erzählt: „Der Wutz“ – so nennt sie den Vierbeiner liebevoll – „war noch ein Welpe. Da bin ich in der Früh einmal runter ins Wohnzimmer gegangen, um die Gassi-Runde anzutreten. Das hatte die Kleine aber schon alleine erledigt. Ich habe es erst gemerkt, als ich mit den Socken mitten in ihrem Häufchen gestanden bin.“
Wie blinden Menschen Farben erklären
Der Satz „Ich kann dich nicht riechen“ ist bei der pensionierten EDV-Beraterin und studierten Trompeterin nicht Ausdruck persönlicher Abneigung, er ist wörtlich zu verstehen. „Obwohl ich durchaus misanthropisch veranlagt bin“, scherzt sie. „Ich kann mir unter Geruch nichts vorstellen. Das ist vermutlich so ähnlich, wie wenn man einem Blinden Farben erklären will“, mutmaßt Wurzinger, deren Eltern irgendwann merkten, dass etwas nicht stimmte und einen Arzt mit der Tochter aufsuchten. „In den 60er-Jahren wollte man einfach alles operieren, aber meine Mutter und mein Vater wollten mich später selbst entscheiden lassen. Und ich habe mich nie wieder dafür interessiert, was da überhaupt zu operieren gewesen wäre“, schmunzelt sie darüber, dass sie nicht weiß, was die Ursache für ihre Anosmie ist.
Ob ihr die Welt der Gerüche fehle? „Nein. Ich kenne es ja nicht anders. Würde ich plötzlich was riechen, wäre das ein schöner Schock. Noch dazu höre ich von anderen ständig, wo und wonach es überall stinkt. Das brauche ich nicht.“ Dennoch räumt sie ein, dass eine funktionierende Nase manchmal von Vorteil wäre. „Ich dusche oft und wechsle häufig meine Kleidung, weil ich meinen Körpergeruch ja nicht beurteilen kann und außerdem viel im Garten oder in der Werkstatt wurschtle“, erklärt Wurzinger und zeigt auf ihr frisch gewaschenes T-Shirt. „Zum Glück ist mir meine Partnerin eine große Hilfe. Sie ist meine ‚Hundenase‘“, verlässt sie sich auf die Ehrlichkeit des Menschen, der ihr nahe ist.
Gefahren im Alltag
Nicht ganz frisch zu duften ist die eine Sache, riskant kann es in anderen Situationen werden. Menschen mit Anosmie leben in mancher Hinsicht gefährlicher als Personen, die riechen können. Das reicht von verdorbenen Lebensmitteln bis zu tödlichen Bedrohungen. Wurzinger merkt nicht, ob die Milch sauer oder der Schinken zu alt ist. Sie würde bei einem nächtlichen Brand auch nicht vom Rauch-Geruch aufwachen. „Ich habe das Ganze zu früheren Zeiten ja geradezu herausgefordert“, gibt sie zu und fährt sich mit der Hand durch den ergrauten Undercut. Als Senior Consultant einer Softwarefirma war sie oft unterwegs und verbachte auch privat viele Stunden in ihrem Camping-Bus. „Das war ein Mercedes 308 mit Gasheizung, und damals habe ich noch geraucht. Auch im Bus. Wäre Gas ausgetreten, hätte ich wahrscheinlich nicht einmal mehr den Knall gehört.“
Ungebremster Lebenshunger
Die sensorische Einschränkung hat Nora Wurzinger, Jahrgang 1958, nie davon abgehalten, ihr Leben voller Neugier und Tatkraft zu gestalten. Nach der PÄDAK Eggenberg in Graz studierte sie Trompete – ihre große Leidenschaft – und hatte eigene Tanzmusikbands. Eine Zeit lang unterrichtete sie an einer Hauptschule, startete dann als Programmiererin durch, ist weltpolitisch und historisch interessiert: „Ich habe mit 50 meinen gut bezahlten Job in der EDV hingeschmissen, Geschichte studiert und 2009 promoviert.“ Außerdem ist sie eine passable Heimwerkerin und passionierte Gemüsegärtnerin. „Aber kochen kann ich nicht, ich kann keine Gewürze unterscheiden“, gibt sie zu.
Dennoch isst die Wahl-Südburgenländerin gerne. „Man kann auch dick werden, wenn man nichts schmeckt“, bestätigt sie mit einem breiten Lächeln. „Wobei ‚nichts‘ nicht ganz stimmt“, relativiert sie. „Ich schmecke scharf, salzig, bitter, sauer und süß. Letzteres esse ich am liebsten.“ Als sie sich mit einem Esslöffel aus einem Honigglas bedient, blitzen ihre Augen. „Ich schaffe ein Kilo pro Woche, wenn ich mir das erlauben würde“, gesteht sie. „Genug Honig hätte ich ja, schließlich imkern wir selbst.“
Was „schmeckt“ oder nicht, hängt stark von Aussehen, Konsistenz und Mundgefühl ab. Käsekrainer gehen aufgrund der Optik nicht, Eis findet Wurzinger genauso ekelhaft. „Wenn mir als Kind eines geschenkt wurde, habe ich es nur gegessen, weil ich gut erzogen bin.“
Würde sie heute noch einmal unbedacht aus einer undurchsichtigen Flasche trinken? „Ja“, sagt Nora Wurzinger lachend und streichelt dem Boxer über den Kopf: „Erstens denke ich nicht daran und zweitens bin ich impulsiv – sonst würde das Leben ja keinen Spaß machen.“

Die gebürtige Grazerin liebt ihren Garten im südburgenländischen Oberdorf. Sie kann alle Kräuter, die bei ihr wachsen, am Aussehen unterscheiden, nicht jedoch am Duft.
Fotos: Nicole Matsch

Am liebsten tollt Wurzinger mit ihrer Hündin Cado herum. Dass sie keinen Geruchssinn hat, erweist sich dabei bisweilen sogar als Vorteil.
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