Bericht

Wenn die Buchstaben ein Eigenleben führen

Lese-Rechtschreibstörungen betreffen etwa 25 Prozent der Kinder laut österreichischem Dachverband Legasthenie. Sie können verschiedene Ursachen haben. Eine besondere Form ist die Legasthenie.

Foto: Shutterstock_Veja

Die Schule: Horror. Mehr als die anderen lernt er, jeden Morgen wiederholt er die Lernwörter und trotzdem hat er wieder die meisten Fehler. „Lern mehr“ sagt die Lehrerin, „stell dich nicht dumm“, der Onkel. „Unser Klassendoofi“, hänseln die Mitschülerinnen und Mitschüler. Die Lernwörter wollen einfach nicht im Kopf bleiben, verwandeln sich auf dem Papier zu unleserlichen Drachen.

„Oft ist die Diagnose ‚Legasthenie‘ eine Erlösung für alle Beteiligten“, erzählt Christine Schlacher, selbst Mutter eines inzwischen erwachsenen Legasthenikers und diplomierte Legasthenie- und Dyskalkulietrainerin. Die betroffenen Kinder sind keineswegs weniger intelligent als ihre Klassenkamerad*innen, „des Öfteren sind die Buben im technischen, die Mädchen im kreativen Bereich sogar überdurchschnittlich.“

AFS-Training

Aber bei der Aufmerksamkeit und bei der Verarbeitung gibt es Schwierigkeiten, die es auszugleichen gilt. Dazu gibt es mehrere Ansätze. „Wir haben das AFS-Training: Aufmerksamkeit, Funktion, Symptom“, so Schlacher. Aufmerksamkeit kann man z.B. durch Merkspiele üben, bei denen nach und nach gezielt Ablenkungen eingebaut werden, etwa durch Fragen oder Musikabspielen im Hintergrund.
Funktionsübungen sprechen multisensorisch mehrere Sinne an, fördern die Körperwahrnehmung. So werden etwa Geschichten verarbeitet (hören, wiedergeben, Fragen beantworten). Mit „Symptom“ sind all jene Übungen zum spezifischen Problem gemeint, z.B. eine Gruppe an Lernwörtern, die geübt, wiederholt, eingeprägt wird.
Andere Ansätze sind verhaltenstherapeutische Lerntrainings für zuhause, die zum Beispiel über den Schulpsychologen vermittelt werden. Diese Trainings zielen vor allem auf das Lernen und Wiederholen des spezifischen Lerninhaltes ab und arbeiten dabei mit positiven Lernverstärkern (z.B. beim Lesen eines Textes wird für jedes richtig gelesene Wort eine Murmel in ein Glas gegeben. Liest das Kind falsch, muss es das Wort wiederholen, wird aber nicht gerügt).

Allerdings gibt es nicht den „Standard-Legastheniker“: „Jedes Kind hat eine andere Legasthenie, muss individuell behandelt werden. Ich teste das am Anfang aus“, erklärt Christine Schlacher. Zur Abklärung einer Legasthenie müssen nämlich etliche andere Faktoren ausgeschlossen werden. Natürlich gibt es viele unerkannte Fälle. Zwar kann man auch im Erwachsenenalter gezielte Übungen machen, aber „je früher man beginnt, um so besser“, erklärt die Trainerin. Häufig entwickeln nämlich unerkannte Legastheniker in Folge von Unmut und Misserfolgen Verhaltensauffälligkeiten, bekommen Migräne oder Panikattacken. Viele driften online in Computerspiele ab, um kompensatorisch in diesem Bereich Erfolg zu haben. Das wiederum führt oft zu Aggressionen im realen Leben.

Legasthenie – outen oder verschweigen?

Es empfiehlt sich, eine diagnostizierte Legasthenie der Klassenlehrerin bzw. dem Klassenlehrer mitzuteilen. Zwar gibt es – anders als in Deutschland – keinen gesetzlichen Anspruch darauf, dass die Rechtschreibung nicht in die Deutschnote einfließt, aber, so Schlacher: „Wenn sie es weiß, kann die Lehrkraft auf jeden Fall auf das betroffene Kind ganz anders zugehen und z.B. mit speziellen Übungen unterstützen. Im späteren Erwerbsleben – gerade mit den heutigen Möglichkeiten von Korrekturprogrammen im PC-Bereich – sollte eine Legasthenie jedenfalls kaum eine Rolle spielen, aber ich würde keinem Kind mit solch einer Störung raten, verstärkt im Bereich der schriftlichen Kommunikation zu arbeiten.“


Christine Schlacher
Legasthenie- und Dyskalkulietrainerin

Was bedeutet Legasthenie?

Legasthenie ist eine spezifische Lese-Rechtschreibschwäche. Zur Abklärung gehört, dass folgende Ursachen der Schwäche ausgeschlossen werden können:

• verminderter Schulbesuch
• verminderte Intelligenz
• neurologische Störungen
• Seh- oder Hörprobleme und
• starke psychische Probleme.

Damit ist Legasthenie lediglich eine Teilleistungsstörung und muss von einer allgemeinen Lernschwäche abgegrenzt werden.

Anzeichen können sein, dass trotz vielen Lernens keine Erfolge erzielt werden, es eine Rechts-Links-Schwäche gibt, im Weiteren auch Verhaltensauffälligkeiten. Da Legasthenie zum großen Teil erblich ist, ist ein Indikator auch das Vorkommen einer Lese-Rechtschreibschwäche in der Verwandtschaft. Weiterhelfen können dabei einerseits die jeweilige Schulpsychologie, aber auch niedergelassene Legasthenietrainerinnen und –trainer. Allerdings sind Letztere privat zu zahlen. Durch gezielte Trainings und viele Wiederholungen können Betroffene letztlich ein ganz normales Leben führen.


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