„Nicht viel Zeit nachzudenken“
Walter Reiss im Gespräch mit der Gebärdensprachdolmetscherin Marietta Gravogl. Fast täglich im Fernsehen und das auch live: Das gilt seit Beginn der Corona-Pandemie nicht nur für Bundeskanzler, MinisterInnen und Fachleute. Vor der offiziellen Kulisse mit den Fahnen von Republik und EU steht – nur leicht abseits – eine Burgenländerin, die die Statements und Antworten gehörlosen Zusehern nahebringt: Durch vollen Einsatz ihrer Arme, Hände, Finger und ihren Gesichtsausdruck. Mag.a Marietta Gravogl aus Neusiedl am See ist professionelle Gebärdensprachdolmetscherin und kennt politische Bühnen wie Nationalrat, Wiener Landtag oder auch seit September 2019 den burgenländischen Landtag. Dort arbeitet sie gemeinsam mit ihren Kolleginnen Eva Böhm und Sabine Beck-Unger. Sowohl Parlament und Landtage als auch der ORF bieten in Livestream und Nachrichtensendungen begleitende Darstellung in Gebärdensprache an. Die ständige Präsenz einer Gebärdendolmetscherin bei krisenbedingten und prominent besetzten Pressekonferenzen hat – auch in diesem Fall – einen sonst kaum wahrgenommenen und viel zu wenig geschätzten Beruf ins mediale und öffentliche Licht gerückt.
Foto: Bundeskanzleramt-Medienservice-live
Marietta Gravogl steht bei den Pressekonferenzen immer leicht abseits und übersetzt in die Gebärdensprache.
Ist es für Sie etwas Besonderes, sozusagen „an höchster Stelle“ im barocken Ambiente des Bundeskanzleramtes live und simultan an den offiziellen Pressekonferenzen zum aktuellen Stand der Coronakrise mitzuwirken?
Marietta Gravogl: Ja, das Setting ist schon sehr besonders. In meinem sonstigen Alltagsdienst im Nationalrat oder im burgenländischen Landtag gibt es meistens schriftliche Aufzeichnungen, die ich mir vorher durchsehen kann. Hier – aber auch das bin ich gewöhnt – gilt es, direkt zu improvisieren. Und außergewöhnlich sind natürlich die Bedingungen: Normalerweise sind wir zu zweit an der Arbeit. Aber im „Krisenmodus“ wurde das Personal im Saal auf ein Minimum reduziert, und so bin ich alleine im Einsatz. Es ist insgesamt schon anders als bei alltäglichen Anlässen, etwa bei Begleitung von Gehörlosen beim Arztbesuch oder in der Berufsschule. Und bei den Regierungspressekonferenzen ist der hier gesprochene Text ein wesentlich anderer als im täglichen Umgang.
Wie schaffen Sie dann das blitzschnelle „Übersetzen“ in Gebärdensprache, wenn Sie die Statements und Antworten der Politiker und Politikerinnen zum ersten Mal hören und dann plötzlich Worte verwendet werden, wie z.B. Prävalenzstudie (Anmerkung d. Red.: repräsentative Studie zur Erhebung der Krankheitshäufigkeit)?
Marietta Gravogl: Ein gewisses Vokabular und einige Fachausdrücke muss ich da schon parat haben. Denn in der Arbeitssituation habe ich nicht viel Zeit, über die Bedeutung bestimmter Begriffe nachzudenken.
„Ein Ball, umgeben von einer Krone“
Kaum jemand kannte vor Beginn der Pandemie das „Corona-Virus“. Wie beschreiben Sie es denn, wie stellen Sie es in Mimik und Gestik dar?
Marietta Gravogl: Die Gebärdensprache ist eine visuelle Sprache, also sehr bildhaft. Bei derart neuen Begriffen, wo es vorher weder das Wort noch die Gebärde gab, muss man immer warten, was da aus der virtuellen Community der Gehörlosen kommt. Das medial bekannt gewordene Bild vom Corona-Virus ist die Darstellung eines Balles, der von einer Art Krone umgeben ist. Die dazu passende Gebärde ist die geballte Faust für diesen gerundeten Körper, und die andere Hand beschreibt mit drehenden Fingern diese Zacken. Und so etablieren sich relativ rasch in der Gemeinschaft der Gehörlosen und in den sozialen Medien das Bild und die Gebärde.
Vieles ist neu, aber so manche Formulierungen und Phrasen dürften Ihnen bei der Vielzahl der Pressekonferenzen schon sehr vertraut sein: Etwa die Statements des Bundeskanzlers…
Marietta Gravogl: Es gibt schon Automatismen, die ohne Nachdenken einfach funktionieren. Zum Beispiel die Formel „Sehr geehrte Damen und Herren!“ oder „Liebe Österreicherinnen und Österreicher!“ Das mache ich automatisch, denn ich brauche Aufmerksamkeit und Energie für den Text, der dann folgt.
Ihr „Werkzeug“ sind Mimik und Gestik, Gesicht und Hände. Wenn es mit der Maskenpflicht sehr eng und streng wird, könnten Sie Ihren Job wohl nicht machen.
Marietta Gravogl: Bei der Pressekonferenz ist Mundschutz wegen ausreichenden Abstands nicht notwendig, außerdem stehe ich auch wie Kanzler, MinisterInnen oder ExpertInnen vor einer Plexiglaswand. Aber wenn in bestimmten Situationen Mundschutz verpflichtend ist, wird es schwierig mit dem gebärdensprachlichen Ausdruck. Es wird schon überlegt, die Maske durchsichtig zu gestalten. Aber das ist im Versuchsstadium, denn falls das Material anläuft, ist das Gesicht wiederum unsichtbar. Das sollte aber gerade im medizinischen Bereich nicht passieren, denn gehörlose Patienten sollten von den Lippen ablesen können.
Fast nur Frauen
Gebärdensprachdolmetschen ist ein Beruf, der fast ausschließlich von Frauen ausgeübt wird. Warum?
Marietta Gravogl: Das ist schwierig zu beantworten. Wahrscheinlich sind Frauen sprachlich talentierter als Männer.
So ist wohl Ihr Job gerade durch die Krise und die zahlreichen TV-Auftritte als ein – auch hier großteils von Frauen ausgeübter – systemerhaltender Beruf mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt…
Marietta Gravogl: Ja, durchaus. Und ich bekomme auch Feedback von gehörlosen Personen aus allen Bundesländern. Da sind Nachrichten darunter wie „Ich verstehe dich sehr gut!“. Und es kommen auch positive Reaktionen von Kolleginnen.
Das ist besonders erfreulich, weil wir GebärdensprachdolmetscherInnen ja nicht angestellt, sondern selbstständig tätig sind und dadurch auch in gewissem Sinne in Konkurrenz zueinander stehen. Gerade in Zeiten wie diesen dürfte ich daher eine der wenigen sein, die regelmäßig beschäftigt ist. Da freuen mich Lob und Anerkennung von Kolleginnen und Kollegen umso mehr.
Wussten Sie…
Österreichweit gibt es etwa 10.000 gehörlose Personen, die die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) als ihre Muttersprache bezeichnen.
Die ÖGS ist seit 2005 in Österreich als eigenständige Sprache anerkannt und ist eine linguistisch vollwertige und natürliche Sprache, die über eine eigene Grammatik und Satzlehre verfügt.
In Österreich gibt es zur Zeit drei Möglichkeiten, den Beruf „GebärdensprachdolmetscherIn“ zu erlernen: in einer Fachausbildung in Linz, in einem Studium am Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft an der Universität Graz und in einem Universitätslehrgang in Salzburg.
Viele AbsolventInnen schließen zusätzlich die Berufseignungsprüfung beim ÖGSDV (Österreichischer Gebärdensprach-, DolmetscherInnen- und ÜbersetzerInnen-Verband) ab und arbeiten danach selbstständig als geprüfte ÖGS-DolmetscherInnen.
Nach wie vor ist er tätig als Moderator von Podiumsdiskussionen, Tagungen und Veranstaltungen zu politischen, gesellschaftspolitischen und sozialen Themen.
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Marietta Gravogl hat nicht viel Zeit nachzudenken.