Interview

Österreichische Zeitgeschichte entlang einer Bahnstrecke im Südburgenland

Es ist ein Dokument darüber, wie der Geist einer Nation in der Provinz seinen Ausdruck und mitunter erschreckende Gestalten annimmt. „Gehen unter schwebendem Geleise“, heißt der Peter Wagner Heimatfilm. Am 30. März kommt er nach Wien ins Admiral-Kino.

Foto: Peter Wagner

Eine aufgelassene Bahnstrecke zwischen Oberwart und Oberschützen. Ursprünglich wollte der Regisseur Peter Wagner die Mächtigkeit und Willkür der Natur, sich ohne Rücksicht auf den Menschen zu holen, was das Ihrige ist, sichtbar machen. So begann sein Weg auf diesen von Gebüsch und Gräsern überwucherten Gleisen. Von Oberwart ging er los. Bereits bei seiner ersten Rast ist ihm bewusst, dass sein Thema ein anderes ist. Eine andere radikale Kompromisslosigkeit. Nicht dem universellen Ordnungsprinzip der Natur muss er folgen, sondern den Erinnerungen seiner Kindheit und Jugend, die sich entlang dieser Bahnstrecke abspielten und an der sich markante geschichtliche Ereignisse wie eine Perlenkette aneinanderreihen.

Vorbei zieht es ihn an seinem Elternhaus, hin zum nur einen Steinwurf entfernten Haus des Purdi Pista, dessen Gestalt der junge Wagner so sehr fürchtete. Als 15-Jähriger sucht er den alten Oberwarter „Zigeuner“ auf, einem Impuls folgend, denn die Angst musste bezwungen werden. „Kennst du Auschwitz?“, soll ihn dieser gefragt haben – in seinem Unterarm eine tätowierte Nummer – um dem damals noch unwissenden und unbefleckten Wagner im selben Atemzug zu erklären: „Auschwitz, das ist die Hauptstadt der Welt.“ Das ist der Unterricht, nach dem Wagner fortan süchtig wurde. Seine Welt war gekippt.

Der Weg

Die autobiografischen Erinnerungskaskaden Wagners entlang der Bahnstrecke sind alles andere als Provinzphänomene, sondern spiegeln ein überregionales, nationales Zeitbewusstsein wider. Auf dieser nur knapp 40 Kilometer langen Bahnstrecke zeigt sich eine beinahe erschreckende Fülle an Brennpunkten österreichischer Zeitgeschichte. Hier in der Provinz haben die ideologischen Dogmen Gesicht und Gestalt bekommen. Nachts, wenn sie hervorgekrochen kamen, waren sie schwarz. Wagner wählt Oberwart als Ausgangspunkt des Weges. Oberwart, in dem das bis dahin schwerste politisch motivierte Attentat verübt wurde; wo bereits 15 Jahre zuvor ein Roma-Gedenksymbol geschändet und Jörg Haider von seinen Anhänger*innen umjubelt wurde. Wagners Weg führt weiter nach Unterschützen, der Geburtsstätte des NS-Granden Tobias Portschy. Schließlich nach Oberschützen mit seinem immer noch nicht wirklich kontextualisierten „Anschlussdenkmal“, dem einzigen Nazi-Bauwerk dieser Art auf österreichischem Boden. Jenes Oberschützen mit seinen ansässigen Schulen, dem damaligen Terrain des „deutschnationalen Gedankengutes für die angebliche Elite des Südburgenlandes“ – in Hannersdorf wird sich Wagner an seinen Freund erinnern, der an einer sadistischen, alten Nazi-Lehrerin zerbrochen ist.
Denn nicht nur diesen Weg nach Norden erkämpft sich Wagner entlang der aufgelassenen Bahnlinie durch das Gestrüpp. Auch in die andere Richtung zieht es ihn. Nach Rechnitz, wo ein weiteres Monument an die menschlichen Gräuel des Faschismus und Rassismus erinnert. Der Kreuzstadl. Etwa 200 Juden sind in seiner Nähe ermordet worden. Im Blutrausch der Nazis. Gefunden hat man sie bis heute nicht. Wagner geht sie ab, die einzelnen Stationen bis zu diesem Ort des Massakers. Großpetersdorf Anfang der 1980er, wo sich Wagner an die Kundgebung des Norbert Burger, der „rechten Alternative“ bei den Landtagswahlen, erinnert – und an die Doggen, die auf ihn und andere Gegendemonstrant*innen losgelassen wurden. Burg, wo 400 jüdische Zwangsarbeiter den Zug verlassen mussten und zum Bau des Südostwalls gezwungen wurden. Die beiden Endpunkte der Strecke – Oberschützen und Rechnitz – sowie der zentrale Ausgangspunkt Oberwart sind Chiffren der literarischen, dramaturgischen und aktionistischen Arbeit Wagners. An ihnen hat sich ein Teil des Disputs zwischen dem Land Burgenland und Peter Wagner ergeben.

Wagner wühlte an diesen Orten und wühlt immer noch. Als Unruhestifter, als Stachel im Fleisch jener, die „die Vergangenheit ruhen lassen wollen“. Die sich belästigt, provoziert, „zwangsbeglückt“ fühlen. Aber einer, dessen Welt einmal gekippt ist, der kann nicht anders.

Unmittelbar nach Beendigung der Dreharbeiten wurden die Gleise abgetragen und auf der Strecke wird ein Radweg errichtet. Damit ist ein zeitgeschichtliches Relikt eliminiert. „Gehen unter schwebendem Geleise“ ist keine Abrechnung mit der Vergangenheit. Es ist auch keine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Schuld. Vielmehr ist es ein Stück persönliche Erinnerungskultur. Der Versuch einer Ordnung in dem Wissen, dass sich die Gegenwart vor der Wucht der Vergangenheit oft verschließt.

 


Ein Peter Wagner und Max Leimstättner
Filme-Abend

Eine Vater-Sohn Divergenz
Zwei Film-Premieren an einem Abend

TRANSHUMANZ – DIE WANDERUNG DER BIENEN
Österreich/Italien 2022, Regie: Max Leimstättner & Greca N. Meloni
Zum Inhalt: Bereits seit der Antike werden Bienenstöcke von Menschenhand je nach Saison in bestimmte Regionen gebracht, wo es für die Bienen reiche Blüte und für die ImkerInnen mitunter besondere Honigsorten zu ernten gibt. Der Film begleitet den Alltag von “Wanderimkern” und wirft einen ethnologischen Blick auf diese spezielle Form der Imkerei – vom Lafnitztal bis in die Berge der Pyrenäen.
Beginn: 18.30 Uhr (Dauer 40 min)

Pause.

GEHEN UNTER SCHWEBENDEM GELEISE
Autobiografische Erinnerungskaskaden eine Bahnstrecke entlang
Ein Peter Wagner Heimatfilm
Südburgenland 2020, Regie: Peter Wagner, Musik: Rainer Paul
Beginn: 20 Uhr (Dauer 93 min)

Moderation: Gregor Seberg

30. März 2022, Beginn: 18.30 Uhr
Admiral-Kino, 1070 Wien, Burggasse 119


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