Weil Kinder es immer mitbekommen!

Wenn Eltern psychisch belastet sind, spüren Kinder das meist zuerst – auch wenn sie es nicht benennen können. Doch viele Eltern schweigen – aus Angst, Schuld oder Scham. Ehrenamtliche Patinnen und Paten können für das Kind zu einer wertvollen Vertrauensperson werden. Das Angebot gibt es seit Jahresanfang auch in Hartberg – geleitet von Nina Richter. Gemeinsam mit der Psychologin Alima Matko räumt sie auf mit Mythen, erklärt, warum
das Brechen von Tabus wichtig ist und dass Kindern die Wahrheit zugemutet werden kann.

Nicole MÜHL / 28. Mai 2025

Mag.a Alima Matko (li.) ist Koordinatiorin der ARGE Patenfamilien in der Steiermark. Das Angebot besteht seit Jahresanfang auch in Hartberg, wo es von Nina Richter geleitet wird. Dezeit werden für den Raum Hartberg ehrenamtliche Patinnen und Paten gesucht. Die Informationsveranstaltung findet am 2. Juni 2025 statt.

Wie merkt man selbst, dass man psychisch belastet ist?

Nina Richter: Psychische Belastung wird sehr individuell wahrgenommen. Es gibt jedoch einige klare Anzeichen: ein Gefühl von Druck, Grübeln, Schlafprobleme – sowohl beim Einschlafen als auch beim Durchschlafen. Auch der Umgang mit den Kindern kann belastend sein. Man reagiert möglicherweise impulsiver.

Alles, was Sie beschrieben haben, erlebe ich auch in bestimmten Lebensphasen. Bin ich damit schon psychisch belastet?

Nina Richter: Das hängt stark von der Situation ab. Gibt es konkrete Gründe, die mit der Zeit abklingen, oder spüre ich über einen längeren Zeitraum einen Leidensdruck – auch wenn ich diesen nicht genau benennen kann? Man darf auch einfach belastet sein und sich Unterstützung holen, ohne gleich eine Diagnose zu benötigen. Viele Menschen reagieren sehr intensiv auf Trauerphasen oder empfinden eine Belastung, die sie so nicht mehr möchten. Dann ist es an der Zeit, aktiv zu werden.
Ich bin überzeugt: Es ist immer richtig, für sich zu sorgen. Ob es sich um eine kurzfristige Krise oder eine chronische Erkrankung handelt – Hilfe anzunehmen, ist niemals weniger wert. Aus einer Krise kann man sehr viel lernen und daran wachsen. Dafür braucht es oft Unterstützung, und die in Anspruch zu nehmen, ist kein Zeichen von Schwäche – im Gegenteil. Es stärkt. Es gibt Menschen mit Erfahrung, mit Strategien. Warum sollte ich mir das nicht zunutze machen?

Hat sich das gesellschaftliche Bewusstsein dafür verändert oder ist psychische Belastung noch immer ein Tabuthema?

Alima Matko: Wir sprechen heute allgemein offener über Krankheiten – auch öffentlich. Das Thema öffnet sich langsam, aber es gibt noch viel Luft nach oben. Stigmatisierungen bestehen nach wie vor, und genau dort setzen wir an.
Wir machen Öffentlichkeitsarbeit, bieten Workshops für Fachkräfte an und schaffen Räume für Offenheit. Besonders die jüngeren Generationen zeigen mehr Reflexion und Informationsbereitschaft. Wir bekommen heute deutlich mehr direkte Anfragen von Eltern.
Gerade für Eltern ist es zusätzlich belastend, wenn sie sich auch noch in ihrer Elternrolle infrage stellen. Gleichzeitig sehen wir, dass viele bereit sind, Hilfe in Anspruch zu nehmen – oft aus Verantwortung für ihre Kinder.

Merken Kinder, wenn ihre Eltern psychisch belastet sind? Und wie äußert sich das?

Nina Richter: Kinder spüren viel, stehen in enger emotionaler Verbindung zu ihren Eltern – auch wenn sie Gefühle nicht benennen können. Diese Fähigkeit muss erlernt werden, oft im pädagogischen Kontext. Viele Kinder geraten in Loyalitätskonflikte, fühlen sich verantwortlich und brauchen viele innere Schritte, bis sie sich Hilfe holen – was oft sehr schwerfällt.

Wie erkennt man als Oma, Tante oder Freundin der Familie, dass ein Elternteil psychisch belastet ist?

Alima Matko: Krisen verändern Familien sichtbar – z. B., wenn plötzlich die Oma das Kind abholt oder Elternabende versäumt werden. Bei chronischen Erkrankungen ist es schwieriger, da Kinder solche Situationen als normal erleben. Lehrer:innen merken oft, wenn Kinder früh Verantwortung übernehmen, schulisch auffallen oder Fehlzeiten haben. Häufig steckt die Sorge um einen Elternteil dahinter. Das Alter des Kindes spielt dabei eine Rolle. Grundsätzlich gilt: Kinder spüren die Belastung, auch wenn sie sie selbst nicht in Worte fassen können.

Das heißt, wenn ich in gutem Kontakt mit dem Kind stehe und die Familie kenne, kann ich die Veränderung bemerken?

Nina Richter: Ja, aber viele Kinder kompensieren gut und sprechen aus Angst oder Loyalität nicht darüber. Sie übernehmen große Verantwortung – für sich, Geschwister, Eltern – und das bleibt oft lange unbemerkt.

Wer ist dann gefordert?

Alima Matko: Alle – Nachbar:innen, Freund:innen, Eltern im Umfeld. Auch Schulsozialarbeiter:innen sind gefragt. Oft reagieren Menschen im direkten Umfeld nicht, obwohl sie etwas bemerken. Meist muss erst viel passieren, bevor Hilfe kommt.

Wie spricht man das Thema an, wen spricht man an, wann ist der richtige Zeitpunkt – und wie, ohne sofort auf Widerstand zu stoßen?

Alima Matko: Widerstand ist normal. Wichtig ist, Offenheit zu zeigen: „Ich bin da.“ 

Nina Richter: Man sollte Ängste ansprechen: „Ich weiß, du hast Sorgen – ich höre dir zu. Wir wollen, dass es dir und deinem Kind besser geht.“ Konkrete Hilfsangebote und Adressen sind hilfreich. Auch wenn Abwehr kommt, bleibt das Angebot bestehen und man kann das Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt anbieten.

Was wären erste Worte, um das Gespräch zu beginnen?

Alima Matko: Zum Beispiel: „Ich habe bemerkt, dass sich etwas verändert hat.“ Oder: „Dein Kind wirkt verändert – können wir reden?“ Auch: „Viele Eltern erleben das – ich kann dich begleiten. Darf ich in ein paar Tagen nochmal nachfragen?“ Wichtig ist, verständlich und nahbar zu bleiben.

Was, wenn man auf ein klares „Nein“ stößt?

Alima Matko: Dann ist es wichtig, dranzubleiben. Ein Gespräch reicht oft nicht. Menschen sind nicht immer sofort bereit für Hilfe.

Nina Richter: Es geht nicht ums Verurteilen. Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Wenn nicht gesprochen wird, bleiben Kinder mit ihren Fantasien allein – und die sind oft schlimmer als die Realität.

Wie reagieren Kinder auf klärende Gespräche?

Alima Matko: Anfangs oft emotional, aber meist spüren sie längst, dass etwas nicht stimmt. Es ist eine Erleichterung, wenn es ausgesprochen wird. Frühe Gespräche helfen – bei akuten Krisen wie bei chronischer Belastung. Gespräche sind ein wichtiger erster Schritt zur Bewältigung.

Wie erkläre ich meinem Kind, dass es mir psychisch nicht gut geht?

Alima Matko: Ehrlich und altersgerecht: „Es wird besser“, „Ich bin für dich da“, „Es ist nicht deine Verantwortung.“ Kleine Kinder spüren Stimmungen, auch wenn sie sie nicht konkret beschreiben können. Pädagog:innen geben Sicherheit.

Nina Richter: Mit jedem Kind kann man über Gefühle sprechen. „Ich habe ein belastendes Gefühl, das nicht verschwindet – deshalb hole ich mir Hilfe.“ Schon kurze Gespräche reichen. Wichtig ist, dass das Kind sieht: Mama oder Papa tut etwas, um die Situation zu verbessern.

Besteht nicht die Gefahr, dass Kinder sich verantwortlich fühlen?

Alima Matko: Ja, das berichten viele Erwachsene später. Darum ist es wichtig zu sagen: „Du bist nicht verantwortlich – darum kümmern sich andere Erwachsene und ich selbst.“

Nina Richter: Auch wichtig: „Es liegt nicht an dir.“ Sätze wie „Sei heute brav“ sind problematisch – sie übertragen Verantwortung, die das Kind nicht tragen darf.

Welche Mythen begegnen Ihnen häufig?

Alima Matko: „Kinder merken das nicht“ – stimmt nicht. Sie spüren sehr wohl etwas, können es aber oft nicht einordnen. Deshalb altersgerecht erklären: „Ich bin traurig, aber ich bekomme Hilfe. Es liegt nicht an dir.“

Nina Richter: Auch falsch: „Psychisch kranke Eltern sind keine guten Eltern.“ Sie wollen ebenfalls das Beste für ihr Kind, schaffen aber in Krisen nicht alles. Hilfe verbessert oft das Familienleben. Hilfe bedeutet nicht automatisch Jugendamt. Nur bei echter Kindeswohlgefährdung handeln wir verpflichtend.

Ist es für Familien nicht eine große Hürde, jemanden ins Haus zu lassen?

Nina Richter: Es sollte als Erfolg gesehen werden, wenn es dem Kind durch Hilfe besser geht.

Alima Matko: Kindererziehung war immer gemeinschaftlich. Patenschaften – früher oft über Nachbarn oder Verwandte – werden heute organisiert, wenn Netzwerke fehlen.

Was machen Paten – und was nicht?

Alima Matko: Sie erziehen nicht, sondern begleiten das Kind, verbringen Zeit, hören zu und unterstützen. Eltern ermöglichen die Treffen, die Erziehungsaufgabe bleibt bei ihnen.

Nina Richter: Kinder sollen loslassen können, schöne Erlebnisse haben, im Mittelpunkt stehen. Das stärkt sie und entlastet die Eltern, die oft sagen: „Ich würde gerne etwas mit meinem Kind unternehmen, aber ich schaffe es nicht.“

Wie erklärt man anderen, wer die Patin oder der Pate ist?

Alima Matko: Am besten mit dem Vornamen. „Pate“ ist vielen bekannt, z. B. durch Taufen. In einem Fall wurde aus der Patenschaft sogar eine Taufpatenschaft.

Und Ihr Fazit?

Nina Richter: Viele Patenschaften bestehen über Jahre. Kinder erleben dadurch Stabilität und neue Perspektiven, etwa in der Bildung. Auch für die Paten sind es wertvolle Erfahrungen – eine Win-win-win-Situation für Kinder, Eltern und Paten.

PATENFAMILIEN IN DER STEIERMARK GESUCHT


Wenn Mutter und/oder Vater psychisch belastet oder erkrankt sind,
betrifft das die gesamte Familie. Eine zusätzliche Bezugsperson für
das Kind ist in dieser Situation oft sehr entlastend.  
Die Bedürfnisse der Kinder stehen in der Patenschaft im Mittelpunkt. 
Eine zusätzliche Ansprechperson stärkt die Resilienz der Kinder.
Dieses Angebot richtet sich an Familien in der Steiermark.

Sie möchten Patin bzw. Pate werden?
Informationsveranstaltung Hartberg
Montag, 2. Juni 2025, 18.30-19.30 Uhr
8230 Hartberg | PSD Hartberg, 2. Stock | Ressavarstraße 2
Anmeldung: nina.richter@gfsg.at
Rückfragen: 0677/62 17 83 72
www.patenfamilien.at

   www.visible.co.at (online Beratung für betroffene Jugendliche)
-     Jugendarbeit Hartberg, Grazerstraße 1
-     Frauen und Mädchen Beratung, sowie die Männerberatung (auch für Jungs), Hartberg am Rotkreuzplatz 1


Wenn Eltern über ihre psychische Belastung reden, hilft das Kindern. Das Schweigen der Eltern führt zu einer Sprachlosigkeit der Kinder, die sie über die Kindheit hinaus prägt.


BOTSCHAFTEN, DIE WIR KINDERN MITGEBEN KÖNNEN
Gespräche nicht erzwingen – deshalb sind Pat:innen wichtig, weil hier der Rahmen ist, um in einer Leichtigkeit darüber zu reden.
Eltern sollten Kindern die Erlaubnis geben, über die Erkrankung reden zu dürfen – das entlastet.
Botschaften: „Du bist nicht schuld, dass es Mama/Papa gut oder schlecht geht“
„Du darfst glücklich sein, auch wenn es Mama/Papa gerade nicht gut geht.“ „Du bist nicht allein.“ „Es gibt Hilfe, die Mama /Papa in Anspruch nimmt (sofern dies tatsächlich so ist).“

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