Kommentar

Was wir vergessen

Erinnerungen an die eigene (Nach-)Kriegsvergangenheit. Schicksale, Entwicklungen und Geheimnisse, die mit ins Grab genommen werden.

Und immer noch ist Krieg in der Ukraine und kein Ende abzusehen. Am 8. Mai 1945 hat die Deutsche Armee kapituliert. Was dieser Krieg mit unserem Land und den Menschen angerichtet hat, ist schon längst aus dem Bild der Öffentlichkeit verschwunden. Die Kriegsversehrten. Männer mit einer oder keiner Hand, mit Blindenschleifen am Arm in skurrilen, selbstkonstruierten Behindertenfahrzeugen sitzend, Beinstummel in schweren ledernen Prothesen. Allesamt mit dem Versuch, trotz ihrer Behinderungen noch wie ganze Männer zu wirken. Mühsam aufgebautes Selbstbewusstsein ausstrahlend, das oft nur mit Alkohol aufrechterhalten werden konnte. Frauen, die ohne arbeitsfähige Männer ihren Betrieb bewirtschaften und die Kinder versorgen mussten, verzweifelte Eltern, die jahrelang auf die Rückkehr ihrer Söhne aus der Gefangenschaft hofften. Ich kann mich noch dunkel daran erinnern. Ich habe als kleiner Bub im Krankenhaus, in dem es seinerzeit noch keine Kinderabteilung gegeben hat, die Bein- und Armstummel der Veteranen gesehen, die nicht heilen wollten und Tag und Nacht geschmerzt haben. Da hat mir auch einer erzählt, dass er immer noch die Finger seiner verlorenen Hand spürt, was ich natürlich nicht geglaubt habe.

Ich kann mich noch dunkel an die Heldengeschichten mancher Kriegsteilnehmer erinnern und auf andere, die aufgehört haben zu reden und als Spinner bezeichnet wurden. Junge Männer, die ihre Jugend im Krieg verbracht haben, die man gezwungen hat, Menschen zu töten, die ihnen nichts angetan haben. Die man dazu gebracht hat, andere zu hassen und ihnen damit die Legitimation zum Töten gegeben hat. Wir Kinder haben diese Geschichten gehört und unsere Ohren gespitzt, wenn vom Krieg die Rede war. Über Gräueltaten wurde nicht gesprochen, auch nicht über die Ermordung von Juden. In den Büschen haben wir nach Gewehren, Bajonetten und Helmen gesucht. Damit haben wir gespielt, auch mit Munition und es ist einiges davon in die Luft geflogen und immer wieder gab es Verletzte. Was aber alle nach dem Krieg verbunden hat, war die gemeinsame Armut. Keiner hatte besonders viel, alle versuchten recht und schlecht durchs Leben zu kommen. Schokolade, Orangen und Bananen gab es, wenn, dann zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Sonst Selbstgemachtes – und Fleisch, wenn, dann einmal die Woche. Männer ausgenommen, die mühsam ihr im Krieg verlorenes Gewicht wieder hinaufgegessen und nicht selten damit auch übertrieben haben. Neid und Missgunst gab es nicht. Autobesitzer wurden nicht beneidet, sondern bewundert. Fernsehgerätebesitzer haben die Fernseherlosen bei sich mitschauen lassen. Ende der 60er und Anfang der 70er-Jahre waren wieder alle gut im Futter oder auf gut österreichisch „blad“. Alles hat geraucht und getrunken, Sport gab‘s nur auf dem Fußballplatz. Ein paar Privilegierte spielten Tennis. Das war‘s dann auch schon. Mein Vater hat damals einmal zu mir gesagt: „Immer, wenn ich einen Dünnen sehe, glaube ich, der ist krank.” Das Wirtschaftswunder kam, die Leute haben immer weniger miteinander geredet und mit steigender Fernseherdichte hat die Zahl jener abgenommen, die abends auf der Gasse miteinander getratscht haben. Irgendwann verschwand das Leid aus den Gesichtern der Menschen, der Witwen und Kriegswaisen, der Soldaten. Sie sterben und nehmen ihr Geheimnis mit ins Grab. Zu schrecklich wäre es, das Erlebte zu erzählen und es noch einmal erleben zu müssen. Die Generation, die nicht im Krieg war, beginnt ihr eigenes Leben zu leben. Frei von den Dämonen der Vergangenheit.

All das steht den Menschen in der Ukraine noch bevor. Bis dahin werden noch viele sterben. Unschuldige, die nichts anderes wollen als das, was alle vernünftigen Menschen dieser Erde wollen – in Frieden und Sicherheit ein menschenwürdiges Dasein haben.

Zum Abschluss noch einige Zeilen aus einem Gedicht des russischen Nationaldichters Jewgeni Jewtuschenko:

Tropfen von Blut
Die zur Erde fallen
Sind die giftigen Samen
Aus denen Bäume des Todes wachsen
Die mit denselben Blutstropfen
Befleckt sind.
Nicht Menschen sterben:
Welten hören auf

Ich hoffe auf eine bessere Zukunft für die Ukraine und wünsche mir von unseren Politikern den Mut zu haben, auch Unpopuläres zu sagen, wenn es der Wahrheit entspricht.
Wir leben nicht auf einer Insel der Seligen, wir leben in geänderten Zeiten.

In diesem Sinne:
Möge es Frieden für diese, unsere einzige Welt geben – und uns möge ein schöner Sommer bevorstehen.

Alles Liebe, Ihr Feri Tschank


Feri Tschank

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