Nicole MATSCH / 3. Juli 2025
© zVg Alfred Nöhrer
Familienmensch Alfred Nöhrer. Bei sechs Kindern und 17 Enkelkindern ist immer was los.
„Erschlagen hat er ihn. Mit einer Hacke. Beide hatten wohl getrunken und sich dann gestritten“, erinnert sich Alfred Nöhrer, Jahrgang 1940, an eine Tragödie. Ein 17-jähriger Zögling aus dem „Landeserziehungsheim Hartberg“, wie es früher hieß, tötete einen Bauern, dem er bei der Arbeit half. „Wir haben zuerst nicht gewusst, was los ist. Polizei, Rettung – alle sind vorbeigefahren.“ Erst zwei Tage später erfuhr Nöhrer von der Verhaftung des Jugendlichen, der nicht seiner Gruppe angehörte. In der Tatnacht hatte Nöhrer Dienst gehabt – wie immer alleine. „Ob ich denn nichts bemerkt hätte. Natürlich kann ich bei 150 Jugendlichen nicht wissen, ob sich einer heimlich hinausschleicht“. Seine Stimme zittert. Der unterschwellige Vorwurf einer Mitschuld trifft ihn noch heute hart – denn für ihn waren die Jugendlichen mehr als nur Schützlinge. „Sie waren fast wie eigene Söhne“, sagt er.
Während er erzählt, bringt seine Frau Rosi Kaffee an den Tisch auf der Terrasse, von der aus man in den Garten schaut. Zwischen Rosen und Ribiseln, zwischen Brennnesseln und Beifuß haben sich die Nöhrers, die über 61 Jahre glücklich verheiratet sind, ein Paradies geschaffen, in Ruhelage und trotzdem nicht weit vom Hartberger Zentrum. Hier fühlen sich auch die sechs Kinder und 17 Enkel wohl, die dem Opa gern die Tomaten von der Staude stibitzen. Der Kraftplatz eines Erziehers im Unruhestand.
Fürsorge und Freiheit
Im Jahr 2003 erreichte ein Brief das Jugendheim – geschrieben von einem ehemaligen Zögling: „Ich habe gehört, Herr Nöhrer ist in Pension. Und Sie haben das zugelassen? Ich hoffe, Sie haben einen Ersatz, der nur halb so gut ist […].“ Worte wie diese sind kein Einzelfall – sie spiegeln wider, wie sehr Alfred Nöhrer geschätzt wurde. „Ich war 24 Stunden im Dienst, hatte mein kleines Zimmer mitten in der Gruppe. Wenn die Jungs etwas brauchten, kamen sie zu mir“, erzählt der gebürtige Unterrohrer, der 1961 als „Ungelernter“ im Heim in Hartberg anfing. „Wir haben Fußball gespielt, sind ins Kino gegangen. Ich habe Ausflüge mit ihnen gemacht, später Urlaubsreisen ans Meer. Das war ein ganz anderes Leben als im Heim. Freiheit war das.“ Die Jugendlichen folgten ihm, obwohl einige von ihnen bereits Haftstrafen abgesessen hatten.
Er erinnert sich an den Tag der Rückkehr von einem Sommerprojekt, das sie alle zusammenschweißte: Grazer Hauptbahnhof. Zwei Stunden bis zur Abfahrt nach Hartberg – Zeit, die die Jungs unbedingt nutzen wollen. „Bitte, Herr Nöhrer, nur kurz heimschauen! Ganz kurz!“ Sie bedrängen ihn, betteln fast, ihre Familien besuchen zu dürfen. Kein Begleiter, keine Kontrolle – nur Vertrauen. Er lässt sie. Und tatsächlich: Alle kommen pünktlich zurück. Kein einziger fehlt. „Das waren meine Burschen“, sagt Alfred Nöhrer leise, die Stimme zittert.
Menschlichkeit gegen alle Widerstände
Mit seinem Engagement machte sich Nöhrer nicht nur Freunde. Vor allem in den Anfangsjahren stieß seine fortschrittliche Art, den Jugendlichen gewisse Spielräume zu lassen und ihnen einen Vertrauensvorschuss zu geben, bei Kollegen auf Kritik. Er wollte kündigen, doch Direktor Breiner gab ihm alle Freiheiten, um ihn zu halten, denn er schätzte seinen Einsatz. Nöhrer war mehr Ersatzvater als „Aufseher“, ein Vordenker im sozialpädagogischen Bereich. „Ich hab halt geschaut, dass ich den Burschen liebevoll begegne.“ Er erinnert sich an zwei Brüder, von denen ihn der Kleinere, keine sechs Jahre alt, besonders ins Herz geschlossen hatte. „Wenn er mich sah, kam er auf mich zugelaufen und sprang mir in die Arme.“ Wie es den beiden im Heim erging, macht Nöhrer noch heute traurig und zornig. „Der Kleine nässte ein – eine Kollegin zwang die Brüder, die Bettwäsche selbst auszuwaschen. Für mich war es eine Katastrophe, mit der Dame zusammenzuarbeiten.“ Ausrichten konnte er nichts, da solche Methoden gang und gäbe waren. Eine in den 70er-Jahren gängige Bestrafung etwa: „Ausreißern wurden die langen Haare abgeschnitten. Was ich da alles erleben musste …“, schüttelt der 84-Jährige den Kopf und setzt seine Sonnenbrille auf, die er wegen einer Star-Operation trägt.
Für Gerechtigkeit und zweite Chancen
Während seiner Zeit im Heim wurde Alfred Nöhrer zum Obmann der Personalvertretung gewählt. Gemeinsam mit seinem Team setzte er sich für faire Einstufungen und die Gleichstellung aller Berufsgruppen ein. 23 Jahre lang war Nöhrer außerdem Bewährungshelfer – nah am Menschen, immer überzeugt davon, dass jeder eine zweite Chance verdient. Darum ist seine Meinung zur Herabsetzung der Strafmündigkeit auf 14 Jahre eindeutig. „Kinder werden in der Haft gebrochen. Viel besser wäre es, wenn Familien verlässliche Betreuungspersonen zur Seite gestellt bekommen“, schlägt er vor.
Die dunklen Jahre
Im Jahr 2011 geriet das Landeserziehungsheim in die Schlagzeilen: Ehemalige Zöglinge berichteten von Misshandlungen in den Jahren 1979 bis 1983. Auch sexuelle Übergriffe durch Erzieher wurden öffentlich thematisiert. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren gegen die damals Beschuldigten jedoch Anfang Februar 2012 ein. Auf Nachfrage von prima! lautet deren Begründung, dass „letztlich keine konkret verwertbaren Angaben von Anzeigern bzw. Opfern“ vorlagen.
Ob Nöhrer davon wusste? „Ich war ihr Vertrauter, ihr Freund. Es sind Dinge passiert, von denen ich erst nachher erfahren habe“, sagt Nöhrer und führt die Hand an die Augen, „doch alles wusste ich nicht.“ Die Stimme versagt. Gerhard Haslinger, ebenfalls Heimkind zu dieser Zeit, selbst Betroffener und bis heute ein guter Freund, macht ihm keinen Vorwurf: „Er hatte keine Ahnung. Wir haben ihm nichts gesagt, wir durften das nicht.“
„Zuschau’n kann i net“
Nach 42 Jahren im Heim trat Alfred Nöhrer in den Ruhestand – Ruhe gibt er dennoch nicht. Mit dem Verein Humanitas unterstützt er notleidende Menschen in Rumänien, auch im Ballclub Lebing engagiert er sich. Fünf Jahre lang saß er im Hartberger Gemeinderat und verfolgt weiterhin aufmerksam die Stadtpolitik. „Manches gefällt mir nicht“, betont er mit einem Augenzwinkern – und spürbarem Nachdruck.
Nöhrer zeigt Briefe und liebevoll beschriftete Fotoalben von früher. Mit vielen Schützlingen hat er noch heute Kontakt. Er hilft ihnen, wo es geht. „Weil zuschau’n kann i net“, sagt er, frei nach Peter Alexander, „und der Stempel ‚Heimkind‘ bleibt für immer“. Darum wünscht er sich, dass auch andere Menschlichkeit zeigen – etwa durch Spenden an alleinerziehende Mütter, Licht für die Welt oder an die Kinderkrebshilfe.
Worte, Taten und Werte hinterlassen Eindruck im Leben anderer. So hofft auch Alfred Nöhrer, dass zumindest einige seiner Burschen etwas Positives von ihm mitnehmen konnten.

Einige seiner Schützlinge schrieben Briefe aus der Haft. Mit manchen hat Nöhrer noch immer Kontakt.
Er würde gerne alle aus seiner Gruppe wieder treffen und wünscht sich, dass sie sich bei ihm melden, um ein Wiedersehen zu organisieren.
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