Porträt

„Nenn mich ruhig Luigi“

Eigentlich heißt er Erik. Erik Nachtmann. Und er ist 22 Jahre alt. Aber jeder, der Super Mario kennt, denkt sofort an Luigi, den schlanken Bruder des italienischen Klempners. Seit Jahren identifiziert sich Erik mit dieser Videospiel-Figur. Kleidet sich dementsprechend, trägt einen Bart wie Luigi und springt wie er durch die Gegend – auf dem Bauernhof seiner Eltern in Kukmirn. Ungewöhnlich für einen 22-Jährigen, dieses intensive und fokussierte Interesse? Ja. Aber Erik erklärt ganz selbstverständlich: „Ich bin anders. Ich bin Asperger Autist.“

Foto: Nico Mühl

Erik Nachtmann ist 22 Jahre alt.

 

Vier Mal ist Gabriele Nachtmann mit ihrem Sohn Erik von Kukmirn nach Oberwart zum Media Markt ins eo gefahren, weil er die Nintendo-Switch für sein Super Mario Spiel kaufen wollte. Monatelang hatte er darauf gespart. Drei Mal sind sie ohne Spielkonsole wieder heimgefahren. Entweder war es Erik unmöglich, sich zwischen zwei Farbkombinationen zu entscheiden oder es lag einfach an den vielen Menschen, die Erik nervös machen. Beim vierten Anlauf hat es geklappt.

Für Erik ist ein solcher Handlunsgablauf eine Herausforderung, denn Erik ist Asperger Autist. Situationen, die ihn unter Druck setzen, sind für ihn kaum bewältigbar. Fluchtverhalten ist die Reaktion. „Oft ist es ihm schon zu viel, sich morgens zwischen Milch und Kakao zu entscheiden“, erzählt seine Mutter. Sie lasse dann die Situation einfach vorbeigehen. Alles andere verstärke nur den Druck für Erik und überfordere ihn völlig.

Asperger Autismus bedeutet, dass Reize ungefiltert auf Erik einströmen und ihn förmlich erschlagen. Die Spannung lässt dann nicht ab von ihm. „Wenn ich mich unter Druck gesetzt fühle, habe ich Albträume, dass mir die Zähne ausfallen“, beschreibt Erik die Situation.

„Eine spezielle Förderung wäre dringend notwendig“

Im Kindergarten zeigten sich die ersten Auffälligkeiten bei Erik. „Dort hieß es, dass er ‚nicht normal‘ sei“, erzählt Gabriele Nachtmann. „Aber für mich war er normal. Er hatte halt nur Eigenarten. Ist etwa lieber am Boden herumgekrabbelt und wollte nie auf einem Sessel sitzen.“ Dann kam die Volksschule. „Dort hatte er in den ersten beiden Jahren eine wirklich tolle Lehrerin, die seine Stärken – wie etwa seine Leidenschaft zur Biologie – erkannte und förderte. Danach ging es bergab“, erinnert sich Gabriele Nachtmann weiter. Erik wurde nach dem Sonderschullehrplan unterrichtet und schließlich nach dem Schwerstbehindertenlehrplan. Oft sei er davongelaufen von der Schule. „Ich wusste immer, dass mein Kind nicht dumm ist. Erik ist besonders und hätte eine spezielle Förderung gebraucht. Autistische Kinder haben eine Begabung. Aber diese muss erkannt und gestärkt werden“, sagt Gabriele Nachtmann. Heute ist Erik 22 Jahre alt und arbeitet bei „Vamos – Verein zur Integration“ auf einem geschützten Arbeitsplatz in der Konditorei. Ein Segen, dass es diese Einrichtung gibt, fügt Gabriele Nachtmann hinzu. Während seine Mutter erzählt, hört Erik aufmerksam zu. Sein Blick ist gesenkt und seine Hände mit den schmalen langen Fingern hat er unter seine Oberschenkel geschoben. Je mehr Zeit vergeht, umso ruhiger wird er und umso mehr nimmt er am Gespräch teil. Bei seinem Lieblingsthema strahlt er: Super Mario.

Die Identifizierung mit dem dünnen, beweglichen Bruder von Mario, der bekanntesten Videospiel-Figur von Nintendo, hat vor einigen Jahren begonnen. Erik taucht gern in die Figur des Luigi ein. Für ihn ist das mehr als ein Faible.

Rituale geben Sicherheit

Wenn Erik von der Arbeit nach Hause kommt, beginnt die optische Verwandlung. Blaue Hose, Hosenträger, grüne Kappe mit einem großen „L“ darauf. Das ist die Kleidung, in der er sich wohlfühlt. Doch alles läuft nach einem strikten Ritual ab. „Zuerst begrüße ich meinen Hund, dann meine Henne. Danach muss ich sofort duschen“, erzählt Erik. Ohne diese Abfolge kann er sich nicht an den Tisch zum Essen setzen. „Weil sonst der Sessel verseucht ist“, sagt er.

Erik weiß, dass er „anders“ ist. Er fühle sich auch so. Verspielt sei er, sagt er von sich. „Ich habe gemerkt, dass ich meine Persönlichkeit nicht geändert habe, seit ich ein Kind bin“, fügt er nach einer kurzen Pause hinzu. Aber seine Freunde akzeptieren das, sagt er. Wenn er versehentlich mit dem Namen seiner Lieblings-Comic-Figur angesprochen wird, strahlt er. „Du kannst mich weiterhin ruhig Luigi nennen“, sagt er dann.

Laut Diagnoserichtlinien zeigen Asperger Autisten deutlich weniger Gestik und Mimik als andere Menschen. Nicht Erik. Wenn er von seinem Alter Ego redet, richtet er sich auf und hält dem Blick seines Gegenübers stand. Er lächelt dabei. Mehr als das. Eriks Körpersprache und sein Gesichtsausdruck sind enorm ausgeprägt. Sein Humor ist staubtrocken. Über sich selbst lacht er viel und gerne. Und über seine Mutter. Eriks trockene Kommentare, über die beide dann schmunzeln, zeigt, wie nah und eingespielt ihre Beziehung ist. Dass Asperger Autisten Ironie und Sarkasmus nicht verstehen, trifft auf Erik nicht zu. Im Gegenteil. Humor schätzt er auch an der Figur des Luigi. „Er ist witzig – und er hat einen tollen Bart“, sagt Erik. Dass sein eigener gut sitzt, ist ihm wichtig. Dafür inverstiert er am Tag etwa eine Stunde.

Stärken nutzen

Wie empathisch Erik ist und wie sehr er die Gestik anderer Menschen interpretieren kann, zeigt Erik in seinen Zeichnungen. „Comic-Strips“, sagt Gabriele Nachtmann, und blickt dabei mit einem Lächeln auf ihren Sohn. „Für mich ist es immer wieder erstaunlich, wie sehr er hier die Gestik der Figuren zum Ausdruck bringt, wo Menschen mit Asperger ja angeblich die Gestik und Mimik anderer nicht deuten können“, sagt sie. Nicht einmal Sprechblasen seien notwendig, um die Geschichten, die er zeichnet, zu verstehen. Ein Beweis dafür, dass man nicht alle Menschen mit Asperger über einen Kamm scheren könne, betont sie. Jeder Mensch sei eben einzigartig und besonders.

Glücklich wäre sie, wenn diese Begabung weiterhin forciert werden könnte. Doch dabei stehe sich Erik selbst im Weg. „Er zeichnet nur wann er will und was er will“, sagt sie. Alles andere ist für ihn wieder zu viel Druck.

Bei Vamos ist er gerne. Vamos gehört zu seiner Routine. Den Wunsch, dass er jemals einen Beruf erlernen und einer Arbeit nachgehen kann, hat Gabriele Nachtmann schon lange aufgegeben. „Ich habe aber einmal von Unternehmen gelesen, die gerade Menschen mit Asperger für ganz bestimmte Detailarbeiten beschäftigen, weil diese oft eine Inselbegabung haben. Solche Unternehmen konzentrieren sich auf die Stärken des Einzelnen“, sagt sie. Für Erik sei eine solche Perspektive unrealistisch. Besser als ihr Mann kann sie die Grenzen von Erik akzeptieren. Aber es braucht viel Geduld. Und manchmal hilft ihr nur eine Portion Humor diese aufzubringen. Dann etwa, wenn sie dreimal umsonst mit Erik in ein Geschäft fährt, bis er es endlich schafft, eine Kaufentscheidung zu treffen oder sich an der Kassa anzustellen. „Da hat er dann echt Glück, dass das Eis im eo so gut ist und ich das als eine kleine Entschädigung sehe“, sagt sie trocken. Erik lacht.


Erik lebt mit seinen Eltern Gabriele und Alexander in Kukmirn. Seine Identifikation mit Luigi, einer Spiel-Figur, ist nicht zu übersehen.

Wenn es um Luigi geht, passt Erik sofort Mimik und Gestik der Figur an.

Sobald er von der Arbeit nach Hause kommt, begrüßt er sein Huhn, das er Corona nennt

Erik zeigt eine starke Mimik – anders als es oft bei Asperger diagnostiziert wird.

Zeichnen ist eine besondere Begabung von Erik. Besonders gerne malt er Comics.

Mag. Gerhard Kuich
Geschäftsführer von VAMOS
Verein zur Integration in Markt Allhau

 

Herr Kuich, wie kann man sich das Leben eines Menschen mit der Diagnose Asperger vorstellen?

Sie erleben die Reize von der Umwelt intensiver als wir. Sie haben auch keinen Filter wie wir. In ihrer Wesensart leben, denken und fühlen sie anders, als es die Gesellschaft gewohnt ist. Das Entscheidende in der Begleitung ist, dass wir das akzeptieren.

Was bedeutet eine andere Wesensart?

Sie nehmen die Reize intensiver auf und haben andere Verarbeitungsprozesse. Sie sind angeblich weniger empathisch. Aber im Fall von Erik stimmt das nicht. Wir erleben ihn sehr empathisch. Er nimmt alle Einflüsse intensiv wahr und kann sie verarbeiten. Asperger ist so vielfältig und sehr schwer zu diagnostizieren. Man kann nicht alle über einen Kamm scheren. Asperger ist weder eine Krankheit noch eine Behinderung. Der Mensch ist einfach anders, als wir es gewohnt sind. Und die Gesellschaft hat Probleme, auf diese Andersartigkeit zu reagieren. Das Wesentliche ist, dass die Menschen angenommen werden und dass sie die Möglichkeit haben, diese Andersartigkeit entsprechend auszuleben.

Aber für die Familie ist der Umgang schon schwer. Wie schaffen es diese?

Es ist ganz schwierig, damit umzugehen. Aber auch hier kann man das nicht generalisieren. Das Autismus-Spektrum ist so breit. Das Entscheidende ist, dass wir lernen, die Dinge anzunehmen, wie sie sind. Man kann natürlich bei einer frühen Diagnose mit einer sozialen Interaktion und mit Therapien durchaus eine Angleichung dieser Wesensart an die gesellschaftlichen Notwendigkeiten erreichen. Allerdings ist das Entscheidende, dass jeder Mensch darauf angewiesen ist, so angenommen zu werden, wie er ist. Dann ist für uns alle eine Entwicklung möglich. Eltern, deren Kinder eine solche Diagnose haben, brauchen Information, Begleitung in der Weiterentwicklung der eigenen Beziehung mit dem Kind und Begleitung, um ein möglichst unkompliziertes Leben zu führen.

Gibt es bei uns diese Stellen?

Es wäre vernünftig, überregionaler zu agieren. Die klassischen Bundesländergrenzen müssten aufgehoben werden. Wir könnten beispielsweise gemeinsam Zentren errichten und dadurch könnten wir breiter agieren. Da ist noch viel Luft nach oben.

Wo stoßen Sie und Ihre MitarbeiterInnen in Ihrer Arbeit an Ihre Grenzen?

Wenn sich jemand in dem System, das wir bei Vamos bieten, nicht wiederfinden kann, dann sind wir nicht mehr die richtige Institution. Wenn wir dem Betroffenen nicht mehr guttun, müssen wir andere Möglichkeiten suchen und anbieten.

Womit kann die Gesellschaft Inklusion erleichtern?

Wir haben als Gesellschaft gelernt, Probleme individuell zu begreifen. Ich denke, es wäre wichtig, dass wir nicht das Individuum zu reparieren versuchen, sondern dass wir die Gesellschaft öffnen. Wir können Menschen, die eine unterschiedliche Wesensart haben, nicht soweit reparieren, dass sie in unsere Gesellschaft passen, sondern wir haben die Gesellschaft so zu orientieren, dass alle Menschen mitgenommen werden können. Der erste Schritt wäre wegzugehen von dem Gedanken der Verwertbarkeit des Menschen. Nehmen wir als Beispiel die Integration am Arbeitsmarkt her. Wenn wir Arbeit als zentrales Lebenskonzept für uns alle verstehen, dann sollte es möglich sein, alle Menschen in einen sinnvollen Arbeitszusammenhang in dieses Gesellschaftssystem einzubinden. Das rechnet sich wirtschaftlich natürlich nicht immer. Aber da müssten Fördersysteme greifen, die als solche wirklich auch für den Menschen selbst begriffen werden. Dann glaube ich, dass wir als Vamos – und das ist eigentlich das Ziel von uns – unnötig werden.

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