Bericht

2020! Alles ist anders

Corona hat vieles verändert. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Kollateralschäden verursacht. Und jeder Mensch steht vor der Herausforderung, diese Krise für sich selbst zu verarbeiten. Depressionen, die gab es schon vor Corona. Aber heuer berichten Psychotherapeuten von einer anderen, neuen Dimension der psychologischen Erkrankungen. Welche das sind und welcher Fallschirm für die Betroffenen gespannt wurde, hat prima! beim Experten erfragt.

Foto: Shutterstock / T.Den_Team

Der erste Lockdown im Frühjahr hat uns schlagartig aller gewohnter Strukturen beraubt. Menschen haben ihren Job beziehungsweise ihre wirtschaftliche Grundlage verloren. Andere mussten bis an den Rand ihrer Belastungsgrenze arbeiten. Diese Krise hat niemanden ausgelassen. Wir waren aufgefordert, unser soziales Zusammensein von heute auf morgen zu bremsen und uns zuhause zu isolieren. Dem Virus keine Chance zu geben. Die Kurve abzuflachen. Ein halbes Jahr später wird deutlich, dass dieser Ausnahmezustand in der Gesellschaft den Bedarf an psychotherapeutischen Behandlungen spürbar erhöht hat. Doch dann kam im November bereits der zweite Lockdown und – was uns völlig aus der Bahn wirft – ein Terroranschlag in Wien. Unserem Wien. Der lebenswertesten Stadt der Welt. Dabei haben wir noch nicht einmal die Auswirkungen des beinahe zweieinhalbmonatigen Stillstands im Frühjahr verarbeitet. „Singles, Pärchen und Familien waren im ersten Lockdown lange Zeit alleine beziehungsweise unter sich. Dies hat sehr schnell zum Vorschein gebracht, welche Dynamik und emotionale Dichte in der privaten Welt der Gesellschaft vorhanden sind. Und wie es sich äußert, wenn man auf einmal Zeit hat“, schildert Alexander Mladenow, Vorstandsmitglied des Burgenländischen Landesverbandes für Psychotherapie, die Stimmungslage des heurigen Frühjahrs. „Da brechen oft Themen auf, die quer durch das Jahr vermieden oder aufgrund von mangelnder Gesprächsbereitschaft ignoriert werden. Keine Frage, die Covid-19-Maßnahmen waren und sind wichtig, um Leben zu retten, allerdings verlangen sie von uns ein Verhalten wie das der sozialen Isolation, das nicht unseren Urinstinkten entspricht.“

Wir sind „Kleingruppenviecher“

Der Psychotherapeut kann in diesem Fall aus dem Lehrbuch zitieren: „Soziale Kontakte sind für uns Menschen extrem wichtig. Wir sind ‚Kleingruppenviecher‘, wir brauchen dieses soziale Umfeld. Und eine Kleingruppe bedeutet für einen Menschen circa zehn bis 14 Personen. Das gleicht der alten Struktur einer Großfamilie, in der die Generationen früher lebten. Wenn dieses soziale Gebilde permanent fehlt, dann bekommt der Mensch einen psychischen Stress. Und Stress ist seit dem Jahr 1936 ein Begriff, den der Wiener Arzt Hans Selye entwickelt hat und der für den Körper mit Angst gleichzusetzen ist. Angst, die um sich greift, greift auch das Immunsystem an. Das kann dann nicht nur im Falle einer Corona-Infektion fatal sein, sondern langfristig generell in einer psychischen Erkrankung münden“, weiß Mladenow.

Corona-Krise verursacht Ängste

„Depressionen sind besonders im Herbst keine Seltenheit. Die überwiegende Dunkelheit, Bewegungsmangel, fehlende Motivation durch Regen, Wind und Kälte. Das körpereigene Antidepressivum Melatonin, das für das psychische Gleichgewicht zuständig ist, wird vermindert produziert. Man wird grantiger. Man mag einfach nicht. Aber das ist Standard, das war schon vor Corona so. Heuer ist allerdings neu, dass Ängste dazugekommen sind. Angst vor der Ansteckung, Angst vor der Ungewissheit, Angst vor der Zukunft. In meine Praxis kommen immer mehr Klientinnen und Klienten, die unter Ängsten und plötzlichen Panikattacken leiden. Das ist eindeutig eine Auswirkung der Corona-Krise“, bemerkt Mladenow.

Einsamkeit und digitale Medien

Die soziale Vollbremsung des ersten Lockdowns hatte es in sich: „Menschen, die grundsätzlich alleine leben, fanden sich durch das aufgezwungene ‚Social Distancing‘ in einer chronischen Einsamkeit wieder, die sie so vielleicht noch nicht kannten. Die digitalen Medien, die uns die Nähe zueinander zumindest suggerieren, sind in dieser Situation ein Segen und ein Fluch. Gut, weil man sich über die visuelle Kommunikation per Videotelefonie und Online-Konferenz nicht so alleine fühlt und schlecht, weil es auch verschiedene Fallen birgt. Viele Klientinnen und Klienten haben sich zur Zeit des ersten Lockdowns aus verzweifelter Einsamkeit auf eine Internet-Bekanntschaft eingelassen, die im schlimmsten Fall durch das sogenannte ‚Catfishing‘-Phänomen in der wirklichen Welt keine Fortsetzung fand. Da der vermeintliche Traumpartner am anderen Ende der Internetleitung nicht in dieser Form existiert wie er oder sie es vorgegeben hat. Am Ende des Tages mussten die Klientinnen und Klienten akzeptieren, dass sie getäuscht wurden und sind am Boden zerstört“, berichtet der Psychotherapeut über dieses Phänomen.

Die „Märchenidee“ von Weihnachten

„Und jetzt in der Adventzeit und dem bevorstehenden Weihnachtsfest bekommt die Einsamkeit einmal mehr einen ungeliebt hohen Stellenwert. Menschen, die einsam sind, fühlen sich dann aufgrund der ‚Märchenidee‘ von Weihnachten noch einsamer – weil dieser besondere Abend fehlt. Den wir uns oft wie im Bilderbuch vorstellen, obwohl er in der Realität nicht selten sehr konfliktbeladen ist. Aber Weihnachten unfreiwillig alleine beziehungsweise ohne einen geliebten Menschen zu verbringen, das ist kein schönes Gefühl“, versteht Mladenow den Grund dieser tiefgehenden Traurigkeit.

Doch was können wir tun, wenn der „Worst-worst Case“ eintritt und rein gar nichts nach unserer Vorstellung vom perfekten Weihnachtsfest klappt?

Der Psychotherapeut rät dazu, die Zeit trotzdem zu genießen: „Richten Sie es sich ein – positiv, bewusst und so gut Sie können. Wenn Sie alleine sind, versorgen Sie Ihre Sinne mit allen schönen Dingen, die Sie zu Weihnachten gerne haben. Backen Sie Kekse, brauen Sie sich einen Punsch. Gehen Sie öfter in der Natur spazieren. Schreiben Sie Briefe. Wenn Sie Kinder haben, überlegen Sie, wie Sie dieses besondere Blitzen in den Augen am Weihnachtsabend erzeugen können. Wenn Sie eine Familie haben, überlegen Sie sich eine Strategie, wie Sie im kleinen Kreis – falls dies die Maßnahmen dann vorgeben – die Feiertage verbringen. Nutzen Sie die Möglichkeit der Videotelefonie. Es ist nicht die Frage, OB es geht, dass Weihnachten schön wird, sondern WIE es geht. Vielleicht schaffen wir es in diesem Jahr, wieder ein bisschen mehr Magie in Weihnachten hineinzubringen. Wenn wir uns auf die Werte besinnen, die uns Menschen eigentlich das Herz erwärmen. Dass wir die Balance wieder herstellen zwischen unserer Selbstoptimierung und dem, wer wir eigentlich wirklich sind. Und es ist ganz wichtig, dass es uns selber gut geht! Diese Verantwortung trägt jeder Mensch für sich selbst.“


 

 

Hilfe in Anspruch nehmen!

Psychotherpeut Alexander Mladenow, Vorstandsmitglied des Burgenländischen Landesverbandes für Psychotherapie appelliert:„Wenn Sie an sich selbst oder an Menschen in Ihrem Umfeld psychische Veränderungen wahrnehmen, zögern Sie nicht, sich Hilfe zu holen. Die Zeiten, wo man sich – abseits der psychischen Probleme – vielleicht noch dafür geschämt hat, zum Therapeuten zu gehen, sind längst vorbei. Das sieht man am hohen Zulauf an Therapieanfragen quer durch alle Altersgruppen.

Das IPR (Institut für Psychotherapie im ländlichen Raum) hat viele Umstrukturierungsmaßnahmen seit dem Beginn der Krise für die psychotherapeutische Hilfe für Betroffene in kürzester Zeit umsetzen können. So wurde beispielsweise Psychotherapie per Telefon oder Videotelefonie in Österreich erstmals erlaubt. Im neuen Lockdown hat die Psychotherapie-Hotline wieder aufgemacht (Tel. 02682/24690, Montag bis Freitag 10 – 12 Uhr). Die Menschen sollen auch keine Scheu haben, im Bedarfsfall die Telefonseelsorge (Notrufnummer 142) oder ‚Rat auf Draht‘ (Notrufnummer 147) anzurufen. Auch gibt es Hilfe beim Psychosozialen Dienst (PSD, www.psychosozialerdienst.at). Und dann gibt es natürlich auch die Möglichkeit einer psychotherapeutischen Behandlung von der ÖGK (www.gesundheitskasse.at). Es gibt viele Wege, wieder aus dieser Abwärtsspirale herauszufinden, man muss sie nur in Anspruch nehmen!“

Wege zur kassenfinanzierten Psychotherapie:
Die Erstberatungen werden in den regionalen Dienststellen der ÖGK im Burgenland angeboten, um den Zugang zu erleichtern (www.psychotherapie.at). Voraussetzung für einen zur Gänze von der ÖGK finanzierten Therapieplatz sind im Burgenland eine krankheitswertige Diagnose und finanzielle Notwendigkeit. Die Kosten werden in den Diagnosebereichen psychosomatische Erkrankungen, Suchtkrankheiten, neurotischen Störungen und Psychosen übernommen. Therapie bei Partnerschafts-, Erziehungs-, Familien-, Berufs- oder Sexualproblemen oder zur Persönlichkeitsentwicklung sind Privatleistungen. Die Soforttherapie, auch mit Teilkostenvergütung, ist jederzeit möglich. Die Kapazität an verfügbaren Therapeutinnen und Therapeuten ist groß. Die Warteliste auf einen vollfinanzierten Kassenplatz im Burgenland ist mit 2 – 3 Monaten Wartezeit relativ überschaubar. Nur im Bezirk Oberwart sind die Wartezeiten etwas länger. Die Versorgungslücken werden hier derzeit aber geschlossen und ein verbessertes Netz wird aufgebaut. Auch von Seiten des Bundes wurden schon weitere Gelder zugesagt. Zur Überbrückung der Wartezeit steht zukünftig im südlichen Burgenland wieder die „Einstiegsgruppentherapie“ zur Verfügung, die mit psychotherapeutische Unterstützung als Hilfestellung im Alltag dient, bis die eigentliche Therapie beginnt.

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