Bericht

Wenn alles zu viel wird

Wenn man das Thema Suizid anspricht, wird jedem ein wenig mulmig. Am liebsten würden wir dann die Geschichte von jemandem lesen, der es aus der Krise geschafft hat und heute wieder zufrieden lebt. Doch leider ist das Thema Suizid keines mit automatischem Happy-End. Nahezu jeder kennt jemanden, der einen kannte, der sich selbst das Leben genommen hat.

Foto: Shutterstock

Und nun kommen sie wieder: Diese langen kalten, dunklen Tage im November. Wenn es nicht richtig hell werden will, wenn alles sinnlos erscheint, ausweglos und grau wie das Wetter. Da hat nahezu jeder einmal einen Durchhänger. Wenn akute Krisen hinzukommen, wie Verlust von z.B. Beziehungen, Kündigung, ein Unfall, die Diagnose einer schweren Krankheit oder dergleichen ist plötzlich das gesamte Leben grau und ausweglos.

Das ist dann so wie in einem Raum zu sein, der geflutet wird, und man kann kaum noch den Kopf über Wasser halten, und irgendwann sieht man panisch nur noch den einen Notausgang – das „Lebens-Haus“ zu verlassen. „Wir sprechen da nicht von Selbstmord“, so Susanna Truschnig vom GO-ON-Kompetenzzentrum für Suizidprävention in Hartberg.

„Es geht hier nicht um ein Verbrechen, es geht um eine ganz große Krise, um eine sogenannte suizidale Enge. Deswegen ist auch der Begriff ‚Freitod‘ irreführend. Es ist in der akuten Krise nicht mehr eine freie Entscheidung, es wirkt eben wie der geschilderte letzte Ausweg, um einer scheinbar nicht zu bewältigenden Situation zu entkommen.“ Nachgewiesen funktioniert sogar unser Gehirn in einer suizidalen Krise anders als in anderen Situationen, es fällt die Barriere des Selbstschutzes.

Dementsprechend ist jemand, der bereits einen Suizidversuch hinter sich und diese Barriere schon einmal überschritten hat, ein Leben lang gefährdeter, es erneut zu versuchen.

Reden hilft

Es lassen sich statistisch etliche Faktoren finden, die als Risikofaktor gelten. Zum einen sind Männer in der Suizidstatistik deutlich Vorreiter, denn das gesellschaftliche Männerbild und auch das gelebte Mann-Sein lassen keine unbewältigbaren Situationen zu. Das heißt, in einem Krisenfall ist Mann weniger fähig, Hilfe zu suchen und anzunehmen oder einfach nur darüber zu reden. „Reden hilft auf jeden Fall“, so Susanna Truschnig weiter. „Man kann durch direktes Ansprechen einer Person auf befürchtete Selbsttötungsabsichten keinen Suizid auslösen. Auch wenn als erste Reaktion vielleicht eine Abwehr erfolgt, kann ein offenes Ansprechen einen Denkanstoß geben, sich professionelle Hilfe zu suchen.“

Die Scham vor Hilfe

Das Alter ist ein weiterer Risikofaktor. Ältere Menschen vereinsamen oft oder fühlen sich nutzlos. Schlimmer noch – sie erleben sich selbst als Last. Auch ein Land-Stadtgefälle ist zu bemerken. Wenn es wenig öffentliches Leben gibt und gleichzeitig die soziale Kontrolle (den Normen der Gesellschaft entsprechen) hoch ist, gibt es wenig Ausweichmöglichkeiten aus einer Situation. Hinzu kommt die Scham, sich Hilfe zu suchen – die Nachbarn könnten es mitbekommen. Da gilt der Suizid manchen als weniger ehrenrührig als offen zuzugeben, etwas nicht zu können.

Die meisten Suizide werden im Vorfeld angekündigt

Apropos reden: Die weit verbreitete Mär, dass, wer einen Suizid ankündige, keinen begehe, stimmt nicht. Vielmehr das Gegenteil ist der Fall: In etwa 80 Prozent aller Selbsttötungen gibt es eine Art Ankündigung im Vorfeld. Doch diese wird oft erst im Nachhinein als solche erkannt. „Ja, der hat gerne mal ein Witzchen drüber gemacht, dass er jetzt Schluss macht. Und plötzlich hat er es wirklich getan“ oder „sie war ja öfter schlecht drauf, hat öfter gesagt, sie wisse nicht weiter.

Aber bisher hat sie sich immer wieder nach oben gekämpft“, hört man oft von Hinterbliebenen und ratlosen Freunden. Doch wie kann man ein harmloses Dahergerede von einer echten Ankündigung unterscheiden? „Ein Patentrezept gibt es da nicht“, so Susanna Truschnig. Immerhin denken mehr als die Hälfte aller Menschen mindestens einmal in ihrem Leben über das Thema Suizid nach. Das allein ist noch kein Alarmsignal, ernster wird es auf Stufe zwei. „Da werden konkrete Pläne geschmiedet“, z.B. Packungsbeilagen von Tabletten studiert, Zugpläne herausgesucht etc.

Stufe drei sind dann schon direkte Vorbereitungen, wie z.B. das Kaufen eines Seils – Aufhängen ist übrigens die häufigste Suizidart. Warnsignale nach außen hin sind das Immer-Stiller-Werden einer Person. Wenn sich jemand zurückzieht, Hobbys aufgibt oder geliebte Gegenstände oder Haustiere verschenkt. So jemanden direkt ansprechen ist nie ein Fehler und vielleicht eben auch ein Anstoß, sich Hilfe zu suchen.

Als Angehöriger sollte man sich ebenfalls Hilfe suchen. Nicht selten haben diese heftige Schuldgefühle, im Vorfeld nichts gemerkt zu haben oder Wut über die Person, die gestorben ist und Scham für die eigene Wut. „Das kann zu einer fatalen Spirale führen, aber man sollte bedenken: Man kann nicht jeden Suizid verhindern, letztendlich ist jeder für sich selbst verantwortlich, und die Frage nach Schuld ist hier vollkommen unangebracht.“

Schutzmaßnahmen aus der Krise

Schutzmaßnahmen sind übrigens neben dem Darüber-Reden und sich professionelle Hilfe suchen auch, sich auf etwas Neues einlassen oder sich kreativ zu betätigen. Der Kontakt mit alten Freunden oder der Beitritt zu einem Verein – allgemein das „Wir“-Gefühl in der Begegnung mit anderen – kann einen Schritt aus der Krise heraus darstellen. Sport, aber auch Entspannung können helfen. Nicht zuletzt geht es darum, sich nicht aufzugeben und auf die eigenen Stärken zu besinnen und somit sich selbst anzunehmen, mit allen Facetten. Einfach das Leben (an-)nehmen.

HILFE

Hilfe bei Depression oder suizidalen Gedanken bietet die Telefonseelsorge rund um die Uhr unter der Nummer 142. Für ein persönliches Krisengespräch wenden Sie sich an die regionalen psychosozialen Beratungsstellen.


Susanna Truschnig
vom GO-ON-Kompetenzzentrum für Suizidprävention in Hartberg.

GoOn-Suizidprävention Steiermark

wurde 2011 als Pilotprojekt gegründet in den Bezirken Murau und Hartberg, ab 2020 ist es flächendeckend vertreten. GoOn bietet keine Einzel- bzw. Krisengespräche an, sondern sieht sich als Informationsdrehscheibe und verweist unter anderem auf die psychosozialen Beratungsstellen in den Regionen. Go-On bietet Informationsveranstaltungen, Vorträge, Workshops, Schulungen und weitere Veranstaltungen für MultiplikatorInnen und die Allgemeinbevölkerung an. Das Team von Go-On arbeitet zum Beispiel in Schulen, Gemeinden, Pflegeeinrichtungen, verschiedenen Kursangeboten, aber auch mit Berufsgruppen wie der Polizei oder LehrerInnen.

Ziele von Go-On sind unter anderem die Sensibilisierung und Enttabuisierung, die Informationsvermittlung über Krisen, Depressionen und Risikofaktoren, angepasst an die jeweilige Zielgruppe.

5 Fakten zum Thema Suizid:

  • Im Jahr 2018 gab es österreichweit 1.209 gesicherte Suizide, 217 davon in der Steiermark. 950 österreichweit bzw. 175 in der Steiermark fielen auf Männer, 259 österreichweit auf Frauen, davon 42 in der Steiermark.
  • Die geschätzte Dunkelziffer spricht von 10-30 mal so hohen Zahlen.
  • Nur etwa die Hälfte hinterlässt einen Abschiedsbrief.
  • Die höchste Risikogruppe stellen Männer im Alter von ca. 75-90 Jahren dar, gefolgt ebenfalls von Männer zwischen 55 und 65.
  • Neben dem Menschen gibt es im Tierreich kaum einen bewussten Suizid. Einzig bei Delfinen ist ein bewusstes Atemanhalten und damit Ersticken gesichert, alle anderen Fälle von scheinbarer Selbsttötung lassen sich als Flucht- und Überlebensinstinkte erklären.

Begrifferklärung: Soziale Kontrolle

Soziale Kontrolle ist ein Begriff, den der amerikanische Soziologe Edward Alsworth Ross 1896 mit einem Aufsatz im American Journal of Sociology als Social Control in die sozialwissenschaftliche Diskussion einführte.

In Abgrenzung zum diffuseren Begriff „sozialer Einfluss“ beinhaltet „soziale Kontrolle“ die gewollte Lenkung des Einzelnen durch die Gruppe, im weiteren Sinne die beabsichtigte Herrschaft der Gesellschaft über das Individuum. Eine neuere Definition fasst unter dem Begriff „jene Prozesse und Mechanismen, mit deren Hilfe eine Gesellschaft versucht, ihre Mitglieder zu Verhaltensweisen zu bringen, die im Rahmen dieser Gesellschaft positiv bewertet werden“. Unterschieden werden zwei Formen der sozialen Kontrolle: die innere Kontrolle (Verinnerlichung von sozialen Normen, insbesondere durch Sozialisation) und die äußere Kontrolle (negative und positive Sanktionen der „anderen“).

Das theoretische Konzept der sozialen Kontrolle umfasst Vorgänge und Strukturen, die ein von den Normen einer Gesellschaft oder einer sozialen Gruppe abweichendes Verhalten einschränken oder verhindern sollen. Als Medien und Institutionen der sozialen Kontrolle fungieren Familie, Schulen, Kirchen, Betriebe, Vereine, Institutionen der Justiz und Sozialarbeit. Ihre Mittel erstrecken sich über Kommunikation (Anerkennung, Ermutigung, Kritik, Zurechtweisung) und Sanktionen bis zur Ausgrenzung. Das Ziel ist die Herstellung von Verhaltenskonformität gemäß den Normen und Werten der Mehrheit.

Quelle: Wikipedia

 

Der Begriff „Soziale Kontrolle“ umfasst im weitesten Sinne die Gesamtheit aller sozialen Prozesse und Strukturen, mit denen in einer Gesellschaft ein als abweichendes definiertes Verhalten überprüft und sanktioniert wird. Die soziale Kontrolle gehört zu den klassischen Theoriekonzepten der Sozialwissenschaften, die diese Disziplin( en) seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert begleitet haben. Seither ist die Vielzahl von Definitionsversuchen fast unüberschaubar, dennoch soll hier versucht werden, wesentliche Schichtungen des Konzeptes freizulegen und seine Entwicklung nachzuzeichnen.

Quelle: Wörterbuch zur Inneren Sicherheit. Autoren: Herbert Reinke und Sascha Schierz.


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