Reportage

Niemand will Mitleid

Inklusion ist ein Menschenrecht. Was Gleichbehandlung bedeutet und wie der Mikrokosmos „vamos“ funktioniert.

 

Malik (alle Namen der Jgdl. geändert) ist 2005 aus Tschetschenien nach Österreich gekommen – ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Nach einer Teilqualifizierung als Koch hat er an der Uni Linz studiert. 

Georg hat bei einem Malerbetrieb im Südburgenland eine Teilqualifizierungslehre abgeschlossen und ist seit 15 Jahren immer noch im Unternehmen beschäftigt. Sein Vorgesetzter sagt über ihn, dass er einer der zuverlässigsten und loyalsten Mitarbeiter ist. 

Eine Lehre in der Küche würde Hannes gerne absolvieren. Allerdings schafft er es derzeit nur drei Tage in der Woche zur Arbeit zu kommen. Hannes befindet sich deshalb in einer Beschäftigungstherapie, weil er noch Zeit braucht, um sich auf die Arbeitswelt vorzubereiten. Vielleicht ist eine Teilqualifizierungslehre dann in zwei oder drei Jahren möglich.

Der Verbindungspunkt dieser drei Lebensgeschichten liegt in Markt Allhau. Alle drei Wege führen zum Verein „vamos“, dem Verein zur Integration. Vor 38 Jahren hat alles mit dem Bemühen von Eltern behinderter und nicht behinderter Kinder begonnen, eine Integrationsklasse an der Volksschule Oberwart ins Leben zu rufen. Der Gedanke, dass auch behinderte Kinder „dort abgeholt werden müssen, wo sie in ihrer Entwicklung stehen“, war zu diesem Zeitpunkt in Österreich einzigartig. Die Initialzündung war gemacht: Schulische Integration sollte in Österreich eingeführt werden. Der Verein „bungis“, der Vorläufer des heutigen Vereins „vamos“ war geboren. Es war eine Zeit, in der Sonderschulen die unterschiedlichen Kinder und Jugendlichen noch strikt voneinander trennten. Fast ein Vierteljahrhundert sollte es dauern, bis der Begriff Inklusion als Grundrecht in der  Menschenrechtskonvention verankert wurde. 

Inklusion bedeutet, dass alle Menschen gleichberechtigter Teil der Gesellschaft sind. Das bedeutet auch, dass Menschen mit Behinderung in der Arbeitswelt nicht benachteiligt werden dürfen. „Ein hehrer Gedanke“, wie es Gerhard Kuich kommentiert. Zehn Jahre hat er den Verein vamos geleitet und übergibt ab Jänner die Geschäftsführung an René Höfer. „Es ist gut und wichtig, dass die Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderung auch in unserer Verfassung steht. Doch wir werden es nie zustande bringen, eine Gesellschaft zu erleben, in der tatsächlich alle Menschen gleich sind“, weiß er aus Erfahrung. Vielmehr gehe es um die Balance, herauszufinden, was zumutbar ist – sich selbst und der Gesellschaft. „Und das gilt für alle Menschen – egal ob mit oder ohne Behinderung. Denn Menschen mit Behinderung wollen vor allem eines: Behandlung auf Augenhöhe“, weiß Kuich. 

Wann sind wir „gleich“?

Der Weg zur Gleichbehandlung, der ist für Gerhard Kuich eigentlich ein leichter: „So wie man selbst behandelt werden möchte, so soll man auch Menschen mit Behinderung behandeln. Mitleid will niemand.“ Die Forderungen mancher Interessensvertreter oder Aktionen gehen für ihn oft in die verkehrte Richtung. „Vor allem, wenn Menschen mit Behinderung so dargestellt werden, dass sie unser Bedauern brauchen. Das stellt den gesamten Gedanken der Inklusion in Frage“, sagt Kuich. 

Gleichberechtigung bedeute, dass Menschen mit Behinderung ihre Fähigkeiten, aber auch ihre Grenzen und die Grenzen des momentan Möglichen wahrnehmen. „So wie es eben für alle gilt“, sagt Kuich. Die Vorstellungen und Wünsche von den Betroffenen, den Angehörigen, den Institutionen und den realistischen Angeboten gehen da oft auseinander. Den gemeinsamen Nenner zu finden, sei die Herausforderung. 

Der Mikrokosmos vamos

Was 1982 als gemeinsamer Schulversuch von Kindern mit Behinderung und nicht behinderten Kindern begonnen hat, hat die Grenzen des damals Vorstellbaren erweitert. 230 Menschen sind heute in den vamos-Betrieben beschäftigt – genauso viele unterschiedliche Geschichten stecken hinter dem Verein. Ausgrenzung ist das, was die meisten erleben, die zu vamos kommen. Behinderte Menschen, Langzeitarbeitslose, Menschen mit psychischen Problemen oder jene, die vielleicht noch ein wenig Zeit brauchen, um ihren Platz am Arbeitsmarkt zu finden, beschreibt Gerhard Kuich. „Aber sie alle schaffen es, gut miteinander zu arbeiten. vamos zeigt, dass Inklusion funktioniert – hier in unserem Mikrokosmos mit all den unterschiedlichen Beschäftigungsmodellen. Mit Pflichten und Grenzen. Denn dann sind alle gleich.


„Gleichbehandlung bedeutet einen Umgang auf Augenhöhe – im Positiven wie im Negativen. Mit Grenzen, die für alle Menschen gelten.“


„Wir müssen weg von dem Defizit-Ansatz und uns auf die Stärken konzentrieren. Dann funktioniert Inklusion in jedem Betrieb“.

Wie einfach oder schwierig ist es, eine*n Mitarbeiter*in mit Behinderung im Unternehmen einzustellen? René Höfer, Geschäftsführer von „vamos – der Verein für Integration“ über unbegründete Ängste und den einfachen Weg zur Inklusion.

Die Angst, einen behinderten Menschen in seinen Betrieb aufzunehmen, ist bei vielen Unternehmer*innen gegeben. Doch wer einmal die Erfahrung gemacht hat, der sei offener dafür, einen weiteren Menschen mit einer Behinderung aufzunehmen, weiß René Höfer, neuer Geschäftsführer von „vamos – der Verein zur Integration“. „Ich bin davon überzeugt, dass in jedem Unternehmen Menschen mit Behinderung arbeiten und ihre Fähigkeiten einbringen können. Nämlich dann, wenn das Unternehmen bereit ist, Umstrukturierungen vorzunehmen. Wo kann man einen Arbeitsbereich einem Mitarbeiter mit einer Behinderung überlassen? Und wo kann man dafür bei einem anderen Bereich etwas anderes dazugeben? Unternehmer*innen müssen flexibel bleiben, dann ist vieles möglich. Auch das Problem mit dem Facharbeitermangel ließe sich dadurch reduzieren“, ist Höfer überzeugt. Wer seine Mitarbeiter*innen – ob mit oder ohne Behinderung – dort einsetzt, wo ihre Fähigkeiten liegen, der profitiert enorm, weiß er. Deshalb wird die Inklusion auch von den Pädagogen von vamos begleitet, die einen Blick dafür haben, wie die Begabungen im jeweiligen Betrieb am besten genutzt werden können. „Ebenso kümmern wir uns um alle Förderungen, die das Unternehmen beanspruchen kann und wir sind auch für alle weiteren Anliegen da“, sagt Höfer. 

Der Verein vamos beschäftigt Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen Schwierigkeiten haben, am sozialen Leben teilzunehmen. „Nicht immer betrifft das eine körperliche oder geistige Behinderung. Die Gründe sind so vielfältig, wie die Menschen selbst“, sagt René Höfer. Durch das enorme Netzwerk des Vereins können individuelle Wege beschritten werden. 

Wer sich für die Aufnahme eines Menschen mit Behinderung in seinem Unternehmen interessiert, findet hier Infos: 

www.vereinvamos.at


Das sollten wir wissen!

Warum wir von Inklusion und nicht von Integration reden sollten: 

Integration bezeichnet die Eingliederung von Menschen in Systeme (z.B. eine Schule), die für die Allgemeinheit erstellt wurden. Das System selbst (Schule, Arbeit, Vereine…) ändert sich nur wenig. Inklusion bedeutet, dass von vornherein keine Person ausgeschlossen wird. Vielmehr ist die Gesellschaft aufgerufen, Strukturen zu schaffen, die es jedem Menschen – auch den Menschen mit Behinderung – ermöglichen, von Anfang an ein Teil der Gesellschaft zu sein.

Artikel 7 des Bundesverfassungsgesetzes sagt: Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetz gleich. (…) Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Die Republik (Bund. Länder, Gemeinden) bekennt sich dazu, die Gleichbehandlung von behinderten und nicht behinderten Menschen in allen Bereichen des täglichen Lebens zu gewährleisten.

Das Behinderteneinstellungsgesetz legt fest, dass Dienstgeber*innen verpflichtet sind, auf je 25 Dienstnehmer*innen mindestens einen begünstigten Behinderten einzustellen. Niemand darf außerdem aufgrund seiner Behinderung diskriminiert werden. Das bedeutet, dass ein behinderter Mensch bei gleicher Eignung, gleichen Fähigkeiten und gleichen Berufserfahrungen bei der Einstellung nicht benachteiligt werden darf. 

Inklusion ist ein Menschenrecht. Das steht in der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, die seit 2008 in Österreich gilt, und ist unmittelbar verknüpft mit dem ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Freiheit, Gleichheit, Solidarität). Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich, die Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten. Menschen dürfen aufgrund ihrer Behinderung nicht in ihren Menschenrechten und Grundfreiheiten beschränkt, ausgegrenzt oder bevormundet werden. 


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